Freies Internet:Amerikas angezählte Netzneutralität

Während das Europaparlament noch über die Freiheit des Datenverkehrs verhandelt, bedrohen in den USA Hintertür-Deals und ein dysfunktionaler Provider-Markt die Netzneutralität.

Von Johannes Kuhn, San Francisco

Reed Hastings ist wie jeder gute Geschäftsmann auch ein guter Geschichtenerzähler. Und so dichtete der Netflix-Chef seinen jüngsten Deal schnell zu einem Akt der Notwehr um.

Netzneutralität sei zentral für die Zukunft des freien Internets, teilte der CEO der Streaming-Plattform vor wenigen Wochen auf seinem Blog mit. Vorerst jedoch müsse man eine Maut an die mächtigen Internet-Anbieter zahlen - "zum Schutz des Kundenerlebnisses".

Der "mächtige Internet-Anbieter" ist der Kabelriese Comcast - ihm überweist Netflix künftig eine unbekannte Summe, um Filme und Serien direkt in dessen Netz einspeisen zu können, statt wie bisher über Dienstleister gehen zu müssen. Das soll dem Netzflix-Kunden im Comcast-Netz eingefrorene Bilder ersparen.

Offiziell ist der Deal kein Verstoß gegen das Gebot der Netzneutralität, also die Gleichbehandlung aller Datenpakete durch Internet-Anbieter. Comcast erhält die Netflix-Pakete schneller, in der Auslieferung macht der Provider weiterhin keinen Unterschied. Doch in der Praxis umgehen beide Unternehmen damit die Netzneutralität.

Jeder dritte Amerikaner hat nur einen Anbieter

Dass Comcast Wegzoll fordern kann und damit - anders als Telekom-Anbieter in Europa - auf immer offenere Ohren stößt, hat nicht nur mit Regulierungsfragen zu tun. Vielmehr profitieren die Internet-Provider davon, dass der Markt längst ein Oligopol ist.

Jeder dritte Amerikaner hat einer Untersuchung zufolge nur einen einzigen Anbieter für schnelle DSL-Anschlüsse zur Auswahl, weitere 37 Prozent der Bevölkerung können nur zwischen zwei Providern wählen. Die geplante Übernahme des Kabelnetzbetreibers Time Warner Cable durch Comcast verbessert diese Lage nicht.

Gleichzeitig profitieren die Anbieter paradoxerweise davon, dass die Netze nicht schnell genug für datenintensive Anwendungen wie hochauflösendes Video-Streaming aufgerüstet wurden. Netflix, das 44 Millionen meist amerikanische Kunden hat, aber auch Amazon Prime, Hulu oder Youtube HD erobern gerade die Flachbildschirme der USA, Anbieter wie der Medienriese DirecTV drängen auf den IPTV-Markt - doch beim Streaming ruckelt es - häufig mangels ausreichender Bandbreite.

"Die Internet-Version des Marxismus"

"Willst Du für deine Kunden einen guten Zugang zu deinen Diensten, wirst du als Firma womöglich bald bezahlen müssen", prophezeit der Medienwissenschaftler Christopher Ali von der University of Virginia. Genau das tut Netflix nun, ein ähnlicher Deal existiert schon länger zwischen Microsoft und Comcast für die Xbox-Livedienste.

Akte der Notwehr sind solche Abmachungen allerdings nur bedingt. Netflix werde wegen seiner Größe einen guten Preis erhalten haben, vermutete jüngst die renommierte Professorin Susan Crawford. "Aber was ist mit dem Nächsten? Das nächste Unternehmen mit großem Bandbreiten-Verbrauch könnte Telemedizin anbieten oder Online-Bildung - und sie werden auch ihren Tribut an Comcast zahlen müssen."

Die Kabelanbieter beharren hingegen darauf, dass sie nicht die Kosten für das Wachstum von Firmen wie Netflix übernehmen wollen - und erhalten dabei Unterstützung von Silicon-Valley-Größen wie Marc Andreesen. Strikte Netzneutralität sei "die Internet-Version des Marxismus", twitterte er. "Hört sich gut an, hat aber problematische Konsequenzen."

Alle Augen auf der Regulierungsbehörde

Ohnehin sind die Netzneutralitäts-Rufe der Tech-Giganten nicht mehr ganz so laut zu hören wie noch vor wenigen Jahren. "Viele Anbieter sind jetzt selbst sehr mächtig und haben diese Bedenken nicht mehr", sagt Medienwissenschaftler Ali, "sie hätten im Zweifelsfall einfach das Geld, um zu bezahlen." Und damit auch einen Vorteil gegenüber Start-ups, die ihre datenhungrige Dienste anbieten wollen und sich keine Priorisierung ihrer Datenpakete erkaufen können.

Alle Augen richten sich deshalb darauf, wie die staatliche Regulierungsbehörde Federal Communications Commission (FCC) auf solche Entwicklungen reagieren wird.

Ein Bundesgericht hat erst im Januar ein wichtiges Urteil im Streit zwischen der FCC und dem Kabelanbieter Verizon gefällt. Demnach besitzt die FCC zwar grundsätzlich das Recht, Breitband-Internet zu regulieren - aber derzeit nicht die nötigen Grundlagen, um die DSL-Anbieter zur Netzneutralität zu verpflichten.

Einige Hintertüren, um Fehler zu korrigieren

Die Behörde hatte 2002 Kabelmodem-Anschlüsse als "Informationsdienste" klassifiziert, nicht als Telekommunikationsdienste. Letzteres hätte die Internet- mit der Telefonleitung gleichgesetzt. Wie ein Festnetz-Anbieter nicht bestimmen kann, welche Anrufe er bevorzugt vermittelt oder sogar blockt, wäre es auch für Internet-Provider strikt verboten gewesen, in den Datenverkehr einzugreifen. Pikantes Detail: Der damalige FCC-Chef Michael Powell ist inzwischen Cheflobbyist für den Verband der Kabel- und Telekomanbieter NCTA.

Der FCC bleiben einige Hintertüren, um nun den Fehler von damals zu korrigieren. Allerdings wird es keine geräuschlose Lösung geben: Sowohl die großen Provider, als auch ihnen traditionell nahestehende Republikaner im Kongress haben bereits signalisiert, eine weitere Regulierung nicht hinnehmen zu wollen. "Die FCC wird versuchen, ein paar Dinge zu verändern, ohne den Großen zu sehr ans Bein zu pinkeln", glaubt Medienwissenschaftler Ali.

Unterdessen könnte das Beispiel Netflix-Comcast Schule machen: Erst in der vergangenen Woche berichtete das Wall Street Journal über Verhandlungen zwischen Comcast und Apple, das einen größeren Einstieg ins TV-Streaming-Geschäft planen soll.

Und im Bereich des mobilen Internets hat die Debatte über Netzneutralität noch überhaupt nicht begonnen - dabei droht dort noch größeres Ungemach. Die FCC hat 2010 entschieden, den mobilen Datentransfer aus seiner Netzneutralitäts-Regulierung auszuklammern. Das könnte sich für die amerikanischen Mobilfunk-Kunden, die bereits heute weit höhere Preise als Europäer zahlen, in absehbarer Zeit rächen.

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