Facebook Live-Videos:Wir werden gefilmt werden, fast immer und überall

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Neuer Alltag: Wer filmt, filmt für alle, die zuschauen wollen.

(Foto: Jens Kalaene/dpa)
  • Facebook-Nutzer können Live-Videos ins Internet streamen und die ganze Welt in Echtzeit an ihrem Leben teilhaben lassen.
  • Bald könnte "always on" zum Standard werden, das "Recht am eigenen Bild" zum Relikt der Vergangenheit.
  • Kaum jemand wird sich der Dauerbeobachtung entziehen können, das wird die Gesellschaft verändern.

Von Johannes Boie

In der Facebook-App gibt es seit Kurzem ein neues kleines Symbol, es sieht aus wie eine eigentümliche Mischung aus einem strahlenden Wlan-Symbol und einem Menschen. Wie passend, darum geht es ja auch: Der Mensch als Sender. Wer auf das Symbol drückt, überträgt mit der Kamera seines Handys live auf die eigene Facebook-Seite, was um ihn herum zu sehen ist. Die Zugriffe auf dieselbe sind theoretisch unbeschränkt, jeder kann zugucken.

Wenn zum Beispiel Timo aus der fünften Klasse mit seinem iPhone die ganze Welt oder wenigstens jene 1,6 Milliarden Menschen, die auf Facebook aktiv sind, dabei zugucken lassen möchte, wie er Lisa aus der Sechsten an den Haaren zieht, dann geht das jetzt problemlos. Und nach allem, was man in den vergangenen Jahren über die Aufmerksamkeitsökonomie im Netz gelernt hat (Youtube-Hits sind zum Beispiel: niesendes Pandababy, kleiner Junge auf Beruhigungsmitteln, Koreanerinnen, die mit dem Hintern wackeln), könnte es gut sein, dass Tim mit seinem Programm für 15 Minuten die Aufmerksamkeit der Welt geschenkt bekommt.

Die Funktion erinnert an die Apps Meerkat und Periscope, die ihren Nutzern Ähnliches ermöglichten. Auch mit ihnen konnten und können Nutzer einen Livestream ins Netz schicken. Aber mit der Integration der App in Facebook, die die Firma derzeit für immer mehr Nutzer freischaltet, erreicht diese Technik sehr viel mehr Menschen.

Videos könnten das Leitmedium des 21. Jahrhunderts werden

Mark Zuckerberg, Facebooks Chef und Gründer, ist der Ansicht, dass Videos in naher Zukunft das Bild als primäre mediale Ausdrucksform neben Text ablösen werden. Der Trend zum Bewegtbild wird maßgeblich begünstigt durch den immer günstiger werdenden Speicher, die schnelleren und günstigeren Datenverbindungen und die Möglichkeit, sehr kleine und leichte Kameras in nahezu jedem beliebigen Gerät unterzubringen.

Live-Videos sind da nur der nächste Schritt. Sie erweitern die Kommunikation mit bewegten Bildern um einen entscheidenden Faktor: die Gleichzeitigkeit von Senden und Empfangen. Bislang war der Versand von Videos und Bildern stets mit dem vorhergehenden Speichern der Aufnahme verbunden, meist auf dem eigenen Gerät, sei es ein Handy oder eine Kamera. Von dort musste das Bild hochgeladen werden und zu einem in der Regel genau definierten Empfänger transferiert werden.

Live-Videos werden die Gesellschaft verändern - nur wie?

Diese Beschränkungen, allesamt auch Punkte für mögliches Innehalten, sind ein für alle Mal durchbrochen. Und wie das so ist im Zeitalter der Digitalisierung: Die Funktion ist ein weiterer, gar nicht kleiner Schritt auf dem Weg in eine neue Gesellschaft, von der sich nach wie vor nicht wirklich absehen lässt, wie sie sein wird.

Allerdings lässt sich grob die Richtung erkennen, in die wir unterwegs sind. In Zukunft wird in sehr vielen Situationen die Wahrscheinlichkeit, gefilmt zu werden, größer sein, als die Wahrscheinlichkeit, nicht gefilmt zu werden. Dazu trägt auch bei, dass die neue Technik die bestehende ergänzt, etwa die allgegenwärtigen Überwachungskameras der Behörden.

Wir sind "always on", allesamt und überall

Die andauernde Aufnahme von Bildern, zumal von bewegten, ist jedoch nur das eindrücklichste Beispiel der Zeitenwende zum "always on", dem bald eintretenden Zustand, in dem ein Ausschalteknopf für den Einzelnen nicht mehr existiert, weil im Zweifelsfall alle anderen ihre Kameras eingeschaltet haben.

Das berühmte Symbol des roten Signals in einem Fernsehstudio oder an einer alten Kamera, das signalisiert, dass die Technik aufzeichnet - "on air" - wird nicht nur überflüssig, es setzen sich sogar im öffentlichen Raum Zeichen durch, die das Gegenteil, das Ausschalten von Kameras, vorschreiben. Etwa im Kino, aber auch in Clubs, in denen hemmungslos gefeiert wird. Der Zustand, nicht auf Sendung zu sein, wird der Ausnahmefall, der per offizieller Regelung eingefordert werden muss.

In dieser neuen Welt gibt es weitere Phänomene zu beobachten, die - zunächst noch bestaunt und als einmalig wahrgenommen - zu ständigen Begleitern im Alltag geworden sind. Datendiebstahl, Datenverkauf, Hacking und Leaks sind immer wiederkehrende Nachrichtenthemen geworden. Auch das ist nur möglich, weil nahezu jede Handlung im Alltag eines beliebigen Menschen Daten produziert, die dauerhaft gespeichert werden, darunter Banalitäten wie das Überqueren einer Straße (Überwachungskamera), das Parken in einem Parkhaus (Zugangskarte), aber natürlich auch offensichtlicherer Datenaustausch wie das Zahlen mit EC-Karte oder die Verwendung des Handys.

Die Gesetze hinken der neuen Realität hinterher

Die Ansammlung von Daten gilt als Normalität, und ihr Diebstahl beziehungsweise ihre Veröffentlichung gegen den Willen ihrer Datenerzeuger wird als eine nicht zu verhindernde Konsequenz angesehen, wie vor wenigen Tagen der Skandal um die Daten von Kunden des Verlags DuMont oder vor ein paar Monaten jener um die Kundendaten des Seitensprungportals Ashley Madison bewies. Jeder Informatikstudent im ersten Semester weiß: 100-prozentige Sicherheit gibt es nie.

In einer solchen Welt erscheinen viele der Gesetze, die den Umgang mit den Daten regeln sollen, veraltet und hilflos. Im Hinblick auf die Live-Sendemöglichkeiten mag man über das "Recht am eigenen Bild" nur sanft lächeln. Wer kann schon der Veröffentlichung einer Aufnahme widersprechen, die live gesendet wird? Und selbst wenn damit zum Beispiel eine Zweitverwendung der Aufnahmen verhindert werden kann - viele Server, über die die Bilder gesendet werden, verfügen bereits heute über eine Technologie, mit der die einzelnen Bilder einer Aufnahme mühelos von Computern auf eine Weise erkannt werden, dass in einer Datenbank festgehalten werden kann, wer darauf zu sehen ist und was auf ihnen geschieht.

Es schauen ja eben nicht mehr nur die Zuschauer einer Übertragung zu, sondern - insbesondere - die Algorithmen, die sie analysieren und in einen Kontext zu anderen Aufnahmen, Menschen und Handlungen setzen. Das geschieht schon heute, dabei steckt die Technik noch in den Kinderschuhen. Daten, die heute anfallen, werden mit Methoden, die erst noch entwickelt werden, viel präziser durchsuchbar sein.

Die digitale Dauerbeobachtung schafft neue soziale Normen

Das "always on" umfasst alle Lebensbereiche, alle Schichten, alle öffentlichen Räume. Umso schwieriger wird es, sich in den Debatten darüber konsequent zu positionieren. Unter welchen Umständen ist welche Dauerbeobachtung in Ordnung? Wer gestern noch gegen Überwachungskameras demonstrierte, ist morgen schon für ein bequemeres Leben ohne Bargeld und streamt übermorgen live aus der Kita seiner Kinder ein Video in die Welt.

Was bleibt, ist das diffuse Gefühl, das die Amerikaner Chilling Effect nennen, die abkühlende Wirkung des Abschreckungseffektes, der entsteht, weil man ahnt, dass das eigene Verhalten immer öfter von einer immer größeren Menge Menschen beurteilt wird. Bislang regeln Gesetze und soziale Normen, wie man sich in einer Situation zu verhalten hat, zum Beispiel in der Schule. Das ändert sich. Immer öfter wird das Verhalten einzelner Menschen von einer nicht überschaubaren Menge anderer Menschen beurteilt, die durch die eine oder andere Bilder-, Video- oder Datensammlung an dem Moment teilnehmen, in dem Timo Lisa an den Haaren zieht.

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