Facebook & Co.:Das viertgrößte Land der Erde

Freundschaften schließen, Befindlichkeiten und Belanglosigkeiten posten und peinliche Party-Fotos hochladen. Über die Faszination von Social Communities.

D. von Gehlen

Kein Abi-Jahrgang mehr, der ohne Reiseblog auskommt, kein Familienfest ohne Nachbereitung auf YouTube und kaum ein Betriebsausflug, dessen Bilder man nicht im Anschluss online bewundern kann. Warum ist das so? Warum wollen sich derart viele Menschen im Internet mitteilen? 15 Stunden Bewegtbild sind in den vergangenen sechzig Sekunden bei YouTube hochgeladen worden, und das geht ununterbrochen so weiter; 24 Stunden lang, jeden Tag.

Alle Clips des Videoportals, das selber nichts produziert, bringen es zusammen mittlerweile auf eine Länge von 3.500 Jahren Abspielzeit. Von den 300 Millionen Menschen, die sich bis heute auf Facebook registriert haben, ändern 30 Millionen mindestens täglich ihren Status, und das Wachstum des Kurzmitteilungsdienstes Twitter hat im vergangenen Jahr die Marke von 1000 Prozent überschritten. Es gibt, das ist unbestreitbar, eine Entwicklung hin zu sogenannten sozialen Medien. Das Netzwerk Facebook, die Plattform Twitter oder das Videoportal YouTube sind die weltweit bekanntesten.

Soziale Medien

In Deutschland heißen die Netzwerke "Wer kennt wen" oder "StudiVZ" und haben die klassischen Nachrichtenportale im Internet längst in Sachen Reichweite abgehängt. Das liegt keineswegs mehr nur an der Generation derjenigen, die mit dem Bildschirm aufgewachsen sind. Die sind zwar online besonders aktiv - die Hälfte von ihnen stellt mindestens wöchentlich selber Inhalte ins Netz - aber auch die Älteren haben das Internet als selbstverständliches Kommunikationsinstrument für sich entdeckt.

Dabei zeichnen sich die Profiteure dieser Entwicklung vor allem dadurch aus, dass sie selber gar nichts herstellen - außer einen Rahmen, in dem Menschen sich austauschen. Man spricht deshalb von sozialen Medien, weil Netzwerke wie Facebook die Kommunikation, also den Austausch zwischen Menschen, in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen stellen. Ihren Erfolg verdanken sie einzig ihren Nutzern. Ohne deren Antrieb, tatsächlich Inhalte zu veröffentlichen, wäre es im viertgrößten Land der Erde (das Facebook - wäre es eine Nation - mittlerweile darstellen würde) ziemlich langweilig.

Warum aber veröffentlichen junge Eltern dort Bilder ihrer neugeborenen Kinder? Warum stellen Menschen Filme ihrer Urlaubsreisen bei YouTube ins Netz? Und weshalb teilen andere bei Twitter der Welt mit, dass sie gerade Kaffee kochen?

Es gibt nur entweder - oder

Mit diesen Fragen kann man auf einer gewöhnlichen Sommerparty des Jahres 2009 einen handfesten Streit vom Zaun brechen. Auf der einen Seite stehen dabei diejenigen, die sich fleißig im Netz verbreiten und ihre Gegenüber als rückständig und als "Internet-Ausdrucker" beschimpfen.

Auf der anderen Seite schütteln jene verständnislos den Kopf, die die Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken für exhibitionistisch, flüchtig und sinnfrei halten. Sie zitieren in der Tat peinliche Beispiele von Nutzern, die die Welt darüber in Kenntnis setzen, dass sie gerade auf dem Weg zur Toilette sind oder dass sich dort im Urinal Blasen gebildet haben, die den Umriss Australiens darstellen. Das möchte man nicht wissen - darin sind sich auch die Diskutanten einig.

Ihre Debatte entzündet sich aber an zwei grundsätzlicheren Punkten: Zum einen geht es um die Frage der Veröffentlichung von Privatem, zum anderen um die (damit einhergehende) Preisgabe schützenswerter Daten. Denn die Texte, Bilder und Videos, die immer mehr Menschen ins Netz stellen, sind ja nicht nur für jeden einsehbar, sie sind auch ständig präsent und lassen sich zu einem Profil des veröffentlichenden Autors zusammenfügen.

Lesen Sie auf Seite 2, was Millionen Menschen zur Selbstdarstellung im Web bewegt.

Öffentliche Tagebücher

Der zur Datenkrake aufgestiegenen Suchmaschinen-Anbieter Google sammelt so beispielsweise Informationen über die bei ihm suchenden Internet-Nutzer, die detaillierter sind als die bei der Volkszählung 1987 erhobenen Daten.

Trotzdem richtet sich der heutige Protest eher gegen staatliche Pläne wie die Vorratsdatenspeicherung als gegen die Datensammler von Google oder Facebook, bei denen Nutzer bereitwillig Informationen preisgeben. Den Skeptikern - die meist übrigens selber kaum eine Alternative zu Google kennen - ist dies Wasser auf ihre analogen Mühlen. Sie äußern ihr Unverständnis über die Publikation im Netz mit leichter Überheblichkeit. Facebook, YouTube und Twitter haben in ihrem abschätzigen Urteil die Rolle übernommen, die vor ein paar Jahren das sogenannte Unterschichtenfernsehen innehatte: ein gesellschaftlicher Trend, den man beschreiben und wortreich geringschätzen kann.

Notizen des Augenblicks

Doch man macht es sich zu einfach, wenn man diesem vorschnellen Urteil folgt, das auf den genannten Partys gerne über die Menschen gefällt wird, die persönliche Daten oder private Bilder im Netz veröffentlichen. Um deren Antrieb zu verstehen, reicht es nicht - wie unlängst vom Verbraucherschutzministerium mittels einer Umfrage getan -, darauf hinzuweisen, dass die "unbekümmerte Preisgabe persönlicher Daten im Netz zum Stolperstein für die berufliche Karriere werden" kann (Ilse Aigner, Verbraucherschutzministerin).

Vor der Warnung sollte die ernsthafte und nicht wertende Frage stehen: Warum kommunizieren immer mehr Menschen in der genannten Form im Internet und nehmen dabei die Veröffentlichung ihrer Daten (billigend oder ahnungsfrei) in Kauf?

Um dieses Datenschutz-Dilemma aufzulösen, muss man mindestens einen Schritt aus der flüchtigen Aktualität des Netzes zurücktreten - zum Beispiel ins Jahr 1845, als der Zeitungsforscher Robert Eduard Prutz nach einer Beschreibung für das damals junge Medium Zeitung suchte. Er nannte es das "Selbstgespräch, welches die Zeit über sich selber führt" und verglich die Zeitung - man beachte die Parallele zu heutigen Weblogs - mit einem öffentlichen Tagebuch der Zeit, "in welches sie ihre laufende Geschichte in unmittelbaren, augenblicklichen Notizen einträgt".

Heute sind diese Notizen schneller und inhaltlich vielleicht auch flüchtiger geworden, sie bedienen sich neuer technischer Mittel, sind auf Dauer archiviert und ständig verfügbar - sie bleiben aber Bestandteil des seit Jahrhunderten bekannten und notwendigen Selbstgesprächs der Zeit. Prutz erkennt in jenem einen wichtigen Moment der Bildung, "der die geheimsten Nerven, die verborgensten Adern unserer Zeit" sichtbar macht.

Bestätigung und Teilhabe

Lauscht man heute dem Selbstgespräch der Blogs und Twitter-Beiträge, stellt man fest: Es scheint eine Ader der von der Demokratisierung der Publikationsmittel bestimmten Internet-Zeit zu sein, dass Menschen trotz des beschriebenen Datenschutz-Dilemmas an diesem Gespräch teilnehmen wollen. Sie tun dies aus den gleichen Gründen, die Prutz für das Jahr 1845 analysierte. Weil sie im Dialog Bestätigung und gesellschaftliche Teilhabe erfahren.

Denn bei aller Vielstimmigkeit hat dieses Selbstgespräch, stellt Robert Musil in "Der Mann ohne Eigenschaften" fest, auch etwas Beruhigendes. Der Schriftsteller spricht von der "erzählerischen Ordnung der Dinge", in die die Menschen ihre Leben bringen und die ihnen Sicherheit schenkt.

Im Heimweg-Kapitel lässt Musil den "Mann ohne Eigenschaften" über genau diese beruhigende Ordnung nachdenken, "die darin besteht, dass man sagen kann: ,Als das geschehen war, hat sich jenes ereignet!' Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten ,Faden der Erzählung', aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht."

Lesen Sie auf Seite 3, welche Hoffnung hinter der Veröffentlichung persönlicher Befindlichkeiten steckt.

Einweben in den digitalen Lebensfaden

Man muss die Zweideutigkeit des Begriffs Web (englisch für Netz) und der deutschen Bedeutung des Webens gar nicht bedienen, um die Parallele zu dem zu erkennen, was Menschen heute beim Bloggen, Posten und Hochladen im Internet suchen: eine erzählerische Ordnung der Dinge im Selbstgespräch der Zeit. Mittels des Online-Publizierens können sie sich einschreiben in den Faden der Erzählung, ihren eigenen Lebensfaden einweben in die Aufreihung all dessen, was in Raum und Zeit und vor allem öffentlich geschieht. Dieses Prinzip hat sich seit Musil kaum verändert.

Heute heißt der Lebensfaden Feed und bringt - wie bei dem soeben von Facebook erworbenen Angebot FriendFeed - die eigenen und die Aktivitäten von Freunden in eine einfache chronologische Reihenfolge. Die Menschen weben sich ein in diesen digitalen Lebensfaden und werden so Bestandteil der einfachen Ordnung der Dinge, der umgekehrten Chronologie, auf der ein gängiges Weblog basiert und in der auch Facebook seine Beiträge sortiert.

Geborgenheit im Chaos

"Wohl dem", lässt Musil den Ulrich ausrufen, "der sagen kann "als", "ehe" und "nachdem"! Es mag ihm Schlechtes widerfahren sein, oder er mag sich in Schmerzen gewunden haben: sobald er imstande ist, die Ereignisse in der Reihenfolge ihres zeitlichen Ablaufes wiederzugeben, wird ihm so wohl, als schiene ihm die Sonne auf den Magen." Musil nennt dies den "Kunstgriff der Epik" und schlussfolgert: "Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler." Warum? Laut Musil um Geborgenheit im Chaos zu finden.

So richtig Musils Einschätzung für die moderne Massengesellschaft am Beginn des 20. Jahrhunderts gewesen sein mag, so sehr dient sie als Ansatz, um das Datenschutz-Dilemma der Web-Gesellschaft des 21. Jahrhundert aufzulösen. Der durch die erzählerische Ordnung hergestellte Eindruck, das Leben folge einem Lauf, ist vielen Menschen offenbar wichtiger als die Besinnung darüber, sich so auch schützenswerter Daten zu entledigen. Und hier liegt die entscheidende Differenz, die das private Publizieren im Netz von heute, bei dem man freiwillig Daten preisgibt, von der Datensammlung der Volkszählung unterscheidet, bei der ein anonymer Apparat Informationen ohne Gegenleistung forderte.

Vielleicht sind die Menschen seit dem Ende der 80er Jahre also nicht unpolitischer oder gar dümmer geworden, sie empfinden die heutige Datensammlung jedoch nicht mehr als passives Gezähltwerden, sondern als aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Selbstgespräch, die ihnen nichts nimmt, sondern eine Ordnung im Chaos schenkt - und damit auch eine Form der Selbstbestätigung in einer unübersichtlichen Welt.

Postkarten der Internet-Zeit

Früher verschickte man als Beweis für den Aufenthalt in der Fremde eine Urlaubspostkarte, heute lädt man die digital fotografierten Reisebilder ins Netz. Neu ist daran der Aspekt der Veröffentlichung, die Postkarten der Internet-Zeit sind für jeden zugänglich, das digitale Selbstgespräch kann mitgehört werden. Es wäre falsch zu glauben, dies sei den Bloggern und YouTube-Filmern nicht bewusst, wenn sie sich veröffentlichen. Sie interpretieren es aber anders: weniger als möglichen "Stolperstein für ihre berufliche Karriere" denn als Versprechen dessen, was das Ziel eines jeden Gesprächs ist: gegenseitiges Verstehen. Vielleicht, so die Hoffnung, gibt es draußen jemanden, dem es genauso ergeht wie mir. Herausfinden wird man es nur, wenn man sich veröffentlicht.

Man sollte also vorsichtig sein, die wachsende Veröffentlichung im Netz einzig als Indiz für einen fortschreitenden kulturellen Niedergang zu lesen. Zielführender wäre es, der häufig abschätzig gestellten Frage des Warum die Frage nach dem Wie entgegenzuhalten. Denn schließlich wirkt die Formulierung

"Leben, um davon zu erzählen" nur für all diejenigen wie das Motto eines geschwätzigen Internet-Nutzers, die vor lauter Kulturpessimismus vergessen haben, dass der Literaturnobelpreisträger Gabriel Garcia Marquez so seine Autobiographie betitelte.

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