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Doku-Reihe "Homo Digitalis":Sind Smartphones vielleicht doch ein Problem?

  • Die SZ präsentiert die Doku-Reihe "Homo Digitalis" von Bayerischem Rundfunk, Arte und ORF. In dieser Woche geht es um die Zukunft des Denkens. Sehen Sie oben die Webisode und lesen Sie hier den Artikel zum Thema.
  • Smartphone-Besitzer schauen täglich im Schnitt mehr als 100 Mal auf ihr Gerät. Viele Menschen halten das für gefährlich.
  • Tristan Harris gibt ihnen recht. Der frühere Google-Mitarbeiter vergleicht Smartphone-Apps mit Glücksspielautomaten, die abhängig machen.
  • Kein Smartphone ist auch keine Lösung. Nutzer müssen lernen, die neue Technologie bewusst zu zu verwenden.

Von Simon Hurtz

Diese neue Technologie ist gefährlich. Auf der Straße, in Konferenzen, sogar im Bett: Niemand achtet mehr auf seine Mitmenschen, alle starren nur noch nach unten. Das Ding in unseren Händen verschlingt unsere gesamte Aufmerksamkeit. Für unsere Umgebung haben wir keinen Blick mehr übrig. Der technologische Fortschritt macht uns krank.

Klingt übertrieben? Vielleicht glauben Sie ja einem Experten, der beschreibt, wie selbst unser Familienleben leidet: "Ein Mann setzt sich an den Frühstückstisch, und statt mit seiner Frau oder seinen Kindern zu reden, versteckt er sich hinter einer Art Bildschirm voller Klatsch und Tratsch aus aller Welt." Zurecht nennt Charles Cooley das ein "seltsames Verhalten".

Diese Technologie nennt sich Zeitung. Cooley war ein renommierter amerikanischer Soziologe, der sich vor mehr als 100 Jahren Gedanken über die Tageszeitung machte. Jede große Erfindung wird erst einmal misstrauisch beäugt. Buchdruck, Eisenbahn, Telefon, Fernseher, Computerspiele, Internet - sie alle galten einst als gefährlich. Insofern wäre es leicht, Smartphone-Kritiker als hoffnungslose Kulturpessimisten im Stile des Neurologen Manfred Spitzer darzustellen. Doch es gibt gute Gründe, sich jenseits der plumpen These der "digitalen Demenz" eine Frage zu stellen: Sind Smartphones nicht vielleicht doch ein Problem?

Die Doku-Reihe „Homo Digitalis“

Wie werden wir in Zukunft leben und lieben, denken und spielen? SZ.de präsentiert als Medienpartner die aufwendig produzierte Web-Doku-Reihe "Homo Digitalis" von Bayerischem Rundfunk, ARTE und ORF. Von Mittwoch an bis Dezember veröffentlichen wir im Wochenrhythmus sieben Videos und sieben Artikel zu Themen, die unser digitales Leben in der Zukunft betreffen. SZ-Autoren haben recherchiert: Wie sehen Beziehungen, Arbeit, Freizeit, Denken und Sex in der Zukunft aus? Eine Reise zu Sex-Robotern, Geliebten, die nur in sozialen Medien existieren, und zum neuen Menschen, der mit den Maschinen verschmilzt. Außerdem können unsere Leser testen, wie digitalisiert ihr eigenes Leben schon ist.

Im Gegensatz zu früheren Technologien begleiten uns Smartphones den ganzen Tag. Der erste Blick am Morgen gilt dem Handy neben dem Bett, und kurz vor dem Schlafengehen checken viele Menschen nochmal ihre E-Mails. Noch nie war Technik derart omnipräsent.

Vor knapp 20 Jahren formulierte Douglas Adams drei Regeln:

1. Alles, was es schon gab, als du geboren wurdest, ist ganz normal.

2. Alles, was bis zu deinem 30. Lebensjahr erfunden wird, ist unglaublich aufregend und mit etwas Glück kannst du deine Karriere darauf aufbauen.

3. Alles, was danach erfunden wird, widerspricht der natürlichen Ordnung und bedeutet das Ende der Zivilisation, wie wir sie kennen - bis sich nach etwa zehn Jahren allmählich herausstellt, dass es eigentlich doch ganz in Ordnung ist.

Tatsächlich mag es sein, dass sich ältere Menschen überdurchschnittlich oft überfordert fühlen und neue Technik deshalb ablehnen. Die Furcht vor Smartphones ist aber keine Frage des Alters. Im Laufe des vergangenen Jahres habe ich mich mit Dutzenden Freunden und Bekannten darüber unterhalten. Die meisten sind 25 bis 35 Jahre alt, und fast alle fragen sich, ob sie zu oft aufs Handy blicken.

"Vermutlich schon", sagt Tristan Harris. Er ist knapp halb so alt und mindestens doppelt so differenziert wie Spitzer. Anders als der deutsche Populärwissenschaftler lehnt Harris Smartphones nicht grundsätzlich ab. Technik aus dem Alltag zu verbannen, könne nicht die Lösung sein. Entscheidend sei, sie bewusst zu nutzen. "Smartphones und Social Media entwickeln sich gerade zu einer globalen Epidemie", sagt Harris. "Wir verlieren unseren freien Willen und werden massenhaft manipuliert." Eine Handvoll Menschen, die bei einer Handvoll Tech-Konzernen arbeiten, könnten mit ihren Entscheidungen beeinflussen, was eine Milliarde Menschen denken, warnte er bei einem Ted-Talk.

Das klingt nach Verschwörungstheorie. Harris weiß aber genau, worüber er spricht. Er arbeitete früher bei Google und verschickte 2013 eine Präsentation an zehn Kollegen. Ihr Titel: "Ein Aufruf, Ablenkung zu vermeiden und die Aufmerksamkeit der Nutzer zu respektieren". Google, Apple und Facebook seien die mächtigsten Unternehmen der Geschichte, die psychische Gesundheit der Nutzer liege in der Hand weniger junger, überwiegend weißer und männlicher Nerds aus San Francisco. "Wir sollten eine enorme Verantwortung empfinden", schrieb Harris auf einer der 144 Folien.

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Der Appell verbreitete sich schnell im Konzern. Tausende Mitarbeiter lasen ihn, darunter auch Larry Page. Der Google-Chef machte den Produkt-Manager Harris zum "Produkt-Philosophen" Harris. In seiner neuen Rolle sollte er erforschen, wie sich Apps so gestalten lassen, dass Nutzer nicht genötigt werden, täglich Dutzende Male das Smartphone aus der Tasche zu ziehen.

Sein Weckruf verhallte jedoch schnell. "Es war eines dieser Dinge, bei denen eine Menge Menschen zustimmend nicken und dann einfach weiterarbeiten", beschrieb ein Google-Mitarbeiter dem Atlantic die Reaktion. Zwei Jahre lang versuchte Harris, seinen Kollegen beizubringen, wie ethisches Design aussehen könnte. Ende 2015 gab er auf und kündigte. Aber Google sei ohnehin nur Teil eines größeren Problems, sagt er. Harris wollte dem gesamten Silicon Valley Moral beibringen.

Als Gründer der Organisation Time Well Spent hält er seitdem Vorträge und Seminare, um Menschen von seiner Idee zu überzeugen. Ihm schwebt eine Art digitaler Öko-Bewegung vor. Wer Bio kauft, verzichtet nicht aufs Essen - aber er macht sich mehr Gedanken darüber. Genauso reflektiert sollten wir mit Smartphones und sozialen Medien umgehen. Harris setzt an zwei Punkten an: Er gibt Nutzern Ratschläge, wie sie ihre Gewohnheiten hinterfragen und ihr Verhalten ändern können. Und er appelliert an Unternehmen, Apps und Geräte zu entwickeln, die nicht ständig um die Wette blinken, vibrieren und klingeln.

Wenn ich Harris zuhöre oder seine Auftritte anschaue, bin ich hin- und hergerissen. Einerseits merke ich an mir selbst, bei meinen Eltern, Freunden und Bekannten, welchen Stellenwert das Smartphone im Leben vieler Menschen besitzt. Millionen Nutzer zahlen Geld für Apps wie Freedom oder Offtime, die ihnen gezielt das Internet abdrehen. In Digital Detox Camps wollen junge Hipster lernen, analog zu leben. Offensichtlich würden viele Menschen gerne weniger Zeit mit ihren Smartphones verbringen, aber schaffen es nicht ohne fremde Hilfe.

Andererseits rege ich mich über Texte auf, die unterstellen, dass Smartphones "eine Generation zerstört" hätten. 650 000 Menschen haben diesen Auszug aus einem Buch der Psychologin Jean Twenge gelikt, kommentiert oder geteilt. Ein Großteil der besorgten Eltern wird die prompten, fundierten und differenzierten Entgegnungen niemals lesen. Bei ihnen bleibt hängen: Smartphones schaden unseren Kindern, deshalb sollten wir sie vor den Gefahren der Technik bewahren.

Manchmal erinnert mich Harris an Twenge. Im Guardian nennt er die Abhängigkeit der Nutzer von ihren Geräten und Apps das "drängendste Problem der Gegenwart", das zwischenmenschliche Beziehungen und sogar die Demokratie zum Negativen verändere. Das Magazin Technology Review zitiert ihn mit einem gewagten Vergleich: Das Suchtpotenzial moderner Technologien ähnle dem von Zigaretten, und die Auswirkungen seien genauso schädlich - nur, dass die negativen Folgen des Rauchens offensichtlicher seien als die "Erosion des menschlichen Denkens", die ein Smartphone mit Facebook, Youtube und Snapchat auslöse.

Harris ist mit seinen Warnungen nicht allein. Auch andere ehemalige Angestellte von Tech-Firmen hinterfragen ihre eigenen Entwicklungen. Justin Rosenstein, der für Facebook den Like-Button erfunden hat, versucht heute, sich von Facebook, Reddit und Snapchat fernzuhalten. Auf seinem iPhone hat er die Kindersicherung aktiviert, damit er keine Apps herunterladen kann. Seine frühere Kollegin Leah Perlman, ebenfalls an der Entwicklung des Like-Buttons beteiligt, nutzt mittlerweile eine Browser-Erweiterung, die den Facebook-Newsfeed blockiert. Loren Brichter gilt als Erfinder des Pull-to-Refresh-Prinzips. Fast alle Apps aktualisieren ihre Inhalte mit dieser Zieh-Geste. Er sperrt sich selbst den Zugang zu bestimmten Webseiten und hat Push-Benachrichtigungen blockiert. "Smartphones sind nützlich", sagte er dem Guardian. "Aber sie machen abhängig. Pull-to-Refresh macht abhängig. Ich bereue die Schattenseiten."

Harris und Brichter vergleichen Smartphone-Apps mit Glücksspielautomaten. Jede Aktualisierung verbinde sich mit der Hoffnung auf neue Benachrichtigungen, hinter jeder ungelesenen Benachrichtigung könnte ein Like oder ein Kommentar stecken. James Williams, der Google verlassen hat, um gemeinsam mit Harris Time Well Spent zu gründen, und mittlerweile in Oxford forscht, beobachtet den Wettbewerb um unsere Aufmerksamkeit mit Sorge. "Das ist mehr als eine Ablenkung, mehr als Manipulation, mehr als Suchtverhalten", sagte er im Sommer auf einer Konferenz. "Die Art und Weise, wie wir auf diese Herausforderung reagieren, könnte die prägende ethische, moralische und politische Frage unserer Zeit sein."

Ich bezweifle, dass sich Herausforderungen besser bewältigen lassen, wenn man sie mit vielen Superlativen versieht. Unabhängig von der Frage, ob Smartphones Milliarden Menschen in willenlose Junkies verwandeln, empfinde ich die Aufmerksamkeitsökonomie aber tatsächlich als Problem. Facebook, Google und Co. werden sich nicht ändern, solange ihr Geschäftsmodell darauf beruht, Werbeplätze zu verkaufen. Die klügsten Designer suchen jeden Tag nach Möglichkeiten, Menschen dazu zu bringen, noch mehr Zeit mit ihren Apps zu verbringen. Je öfter Nutzer aufs Smartphone schauen, desto mehr Anzeigen sehen sie, desto mehr Geld verdienen die Konzerne. Das ist keine Verschwörung, das ist Kapitalismus.

Ein Leben ohne Smartphone kann ich mir kaum noch vorstellen. Ehrlich gesagt: Ich will es mir auch nicht vorstellen. Unterwegs nachschauen, wann der letzte Bus fährt und ein Ticket kaufen. Auf langen Zugfahrten mit einem Gerät Musik hören und Zeitung lesen. Über Facebook Kontakt zu Freunden halten, die ich sonst längst aus den Augen verloren hätte. Mein Smartphone macht mein Leben nicht nur einfacher und komfortabler, sondern auch sozialer.

Mein Smartphone beansprucht aber auch viel Aufmerksamkeit und frisst eine Menge Zeit. Seit Jahren fahre ich über Silvester mit Freunden in ein abgelegenes Haus. Es gibt kein Wlan, und um SMS zu verschicken, muss man auf einen kleinen Berg steigen. Jedes Jahr stellen wir erstaunt fest, wie gut es uns tut, die plötzlich nutzlosen Smartphones für einige Tage zu ignorieren.

Ich kann mir kaum vorstellen, dass Menschen vor einem Jahrhundert etwas Ähnliches über die Tageszeitung gesagt haben. Kein Verleger hätte versucht, seine Kinder vor seinen Erzeugnissen schützen. Genau das tat Steve Jobs: Als ihn ein Journalist der New York Times 2010 fragte, ob Jobs' Kinder das iPad liebten, sagte der damalige Apple-Chef: "Sie haben es noch nicht benutzt. Wir begrenzen die Zeit, die unsere Kinder zuhause mit Technologie verbringen." Seine jüngsten Töchter waren damals keine Kleinkinder, sondern bereits im Teenager-Alter.

Jobs ist nur einer von vielen Firmenchefs aus dem Silicon Valley, der sein Familienleben überraschend analog gestaltet. Sie haben die Produkte selbst entwickelt, und sie wissen am besten, wie wichtig es ist, bewusst damit umzugehen. Das hat mich nachdenklich gemacht.

Kurz nach dem letzten Silvester habe ich fast alle Push-Benachrichtigungen abgestellt. Wenn ich wissen will, ob mir jemand auf Facebook geschrieben hat, muss ich die App aktiv öffnen. Jetzt bestimme ich, wann ich bereit bin, um E-Mails oder Whatsapp-Nachrichten zu beantworten. Das Smartphone liegt stumm und schwarz auf dem Tisch, und ich schaue es nur an, wenn ich Zeit dafür habe. Seitdem fühle ich mich freier.

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