Digitalkamera-Entwickler Sasson:Der Mann, der das Pixel erfand

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Steven Sasson entwickelte 1973 die erste Digitalkamera aus purer Lust am Basteln. Sein Chef war anfangs nur mäßig interessiert, erklärt er im SZ Wissen.

Willi Winkler

Der 58-Jährige Ingenieur Steven J. Sasson ist der Erfinder der Digitalfotografie. 1973 kam der Elektroingenieur nach dem College zur Fotofirma Kodak Eastman in Rochester im US-Bundesstaat New York. Dort entwickelte er eine völlig neue Kamera, die zunächst unter dem schönen Namen "Tragbarer elektronischer Fotoapparat mit Playback-System" geführt wurde. In diesem Jahr erhielt Sasson für seine revolutionäre Erfindung den Kulturpreis der Deutschen Gesellschaft für Photographie.

Sasson mit dem Prototyp seiner Digitalkamera. Kürzlich wurde Sasson der Kulturpreis 2008 der Deutschen Gesellschaft für Photographie (DGPh)verliehen. (Foto: Foto: DGPh)

SZ Wissen: Mr. Sasson, können Sie mir bitte als Kodak-Mitarbeiter für mein privates Geschichtsbuch eine wichtige Frage beantworten: Ist die Fotografin Linda Mc- Cartney, geborene Eastman, möglicherweise mit dem Gründer von Eastman Kodak verwandt?

Steven Sasson: Nein, leider nicht. Eine solche Verbindung hätte uns sehr gefreut. Der Kodak-Gründer George Eastman starb aber 1932 kinderlos.

SZ Wissen: Sie sind der erste richtige Erfinder, dem ich begegne. Eigentlich hatte ich auf jemanden wie Doc Brown in "Zurück in die Zukunft" gehofft, einen verrückten Wissenschaftler mit wilder Albert-Einstein-Frisur.

Sasson: Ja, der war toll. Wie hieß diese Maschine gleich, mit der er in die Vergangenheit reisen konnte? Flusskondensator! Toller Mann. Unsere PR-Abteilung würde es allerdings nicht besonders schätzen, wenn wir auch so genialisch auftreten würden.

SZ Wissen: Waren Sie bei Kodak nicht auch so eine Art Daniel Düsentrieb?

Sasson: Ich habe schon als Kind leidenschaftlich gern gebastelt. Mir machte es einfach Spaß, Sachen auseinanderzunehmen, nur um sie hinterher neu zusammensetzen zu können. Würde meine Mutter noch leben, könnte sie Ihnen erzählen, wie ich ständig alte Fernseher nach Hause schleppte oder kaputte Radios, die ich am Straßenrand gefunden hatte.

Mir ging es um die elektronischen Bauteile. Ich war dauernd am Werkeln, baute Stereoverstärker oder Radioempfänger und installierte oben auf dem Dach immer größere Antennen. Es war natürlich verrückt, aber ich wollte nie etwas anderes als Elektroingenieur werden.

SZ Wissen: Und nach dem College gingen Sie 1973 gleich zu Kodak?

Sasson: Ja, und stellen Sie sich vor, bei Kodak lagen viele Sachen herum, es gab also wieder was zu bauen.

SZ Wissen: Ein Kinderparadies.

Sasson: Vor allem gab es da eine Menge intelligenter Leute. Wenn ich ein Problem hatte, wenn ich mit irgendwas nicht weiterkam, ging ich auf den Flur und fragte die anderen. Kodak war mein Wohltäter, weil dort so viele Experten für Spezialgebiete beschäftigt waren. Wenn ich etwas brauchte, was ich nicht im Labor fand, ging ich über den Flur oder rief jemanden an. Dann konnte ich weiterbasteln.

SZ Wissen: Sie hatten also viele künstlerische Freiheiten?

Sasson: Ich fing in der Forschungsabteilung an. Dort waren Chemiker, Physiker und Ingenieure beschäftigt. Und es gab eine Elektronik- Gruppe. Denn bei den konventionellen Kameras ging man mehr und mehr dazu über, etwa beim Auslöser oder bei der Blende mit elektronischen Bauteilen zu arbeiten. Also brauchten sie mehr Ingenieure.

Mein Chef war damals Gareth Lloyd, und der sagte mir, dass wir den CCD-Chip (Charged-coupled Device) für Kameras verbessern wollten. Fairchild hatte gerade diesen lichtempfindlichen Chip mit sage und schreibe 10.000 Pixel zur Serienreife gebracht. Wir sprachen etwa eine Minute über das Projekt.

SZ Wissen: Das war der Ausgangspunkt für die Digitalkamera?

Sasson: Ja, es war eine sehr vage definierte Aufgabe.

SZ Wissen: Unternehmen wie Kodak leben von Innovation. War diese neue Kamera Ihre Idee, oder wollte Kodak sie haben?

Sasson: Es war schon meine Idee. Ich wollte diese neue Art Kamera bauen - ich sagte Ihnen ja, dass ich schon immer gern Sachen zusammengebastelt habe. Hier musste ich mir zuerst eine Linse beschaffen. Dann überlegte ich: Wäre es nicht toll, wenn man ein Bild digital festhalten könnte? Ich wusste nämlich nicht, wie man ein mechanisches Aufzeichnungsgerät bauen sollte. Also kam ich auf den Gedanken, eine Kamera ohne einen einzigen beweglichen Bestandteil zu bauen.

SZ Wissen: Reine Elektronik?

Sasson: Ja. Ich hatte allerdings zunächst überhaupt keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte. Für den digitalen Prozess entschied ich mich, weil ich mich damit ein wenig auskannte. Es sollte eine digitale Aufnahme werden, die man anschließend auf dem Bildschirm anschauen konnte - ohne Film, ohne Entwicklung, ohne Drucker. Ich habe mehrfach mit Gareth darüber gesprochen, der fand es interessant und sagte nur: "Probier's einfach!"

Damit hatte ich alle Freiheit, die ich brauchte, vielleicht sogar zu viel. Ich hatte Glück mit meiner Umgebung und noch mehr Glück, weil sich niemand um mich kümmerte. Mein Labor befand sich irgendwo weit hinten auf dem Betriebsgelände, und niemand interessierte sich dafür.

Niemand stellte Fragen, was mir nur recht war, weil ich so viel vermurkste. Ich dachte also nach, baute es aus Teilen zusammen, mit Technikern, die mir halfen, und kam auf die ausgesprochen sinnvolle Anordnung, die Sie da sehen.

SZ Wissen: Einen Preis für elegantes Design bekommt man dafür aber nicht.

Sasson: Nein, im Gegenteil, es ist total funktional und zusammengebaut aus dem, was zur Hand oder leicht zu beschaffen war.

SZ Wissen: Es sieht wirklich recht zusammengebastelt aus.

23 Sekunden dauerten die ersten Digitalaufnahmen von Steven Sasson. Dann nahm er die Kassette aus der Kamera, steckte sie in das wuchtige beige Abspielgerät und schloss dieses an einen Fernseher an. Das Ergebnis hier: ein lächelndes Kind mit Hund. (Foto: Foto: DGPh)

Sasson: Wir erfanden es, während wir es entwickelten, ohne Plan, aber mit folgenden Prämissen: Ich wollte es als tragbares Gerät, aber ohne Spule. Ich wollte das Bild speichern, aber ohne einen Film. Ich wollte es sehen können, aber extern, auf einem Fernseher.

SZ Wissen: Und dieser Datenspeicher wurde die Memory Card?

Sasson: Die Memory Card war eine Kassette, die mit einer Playbackeinheit abgespielt und von da auf den Fernseher projiziert wurde. Das ganze Unternehmen bestand ja aus zwei Teilen. Alle glauben, es sei immer nur um die Kamera gegangen, die neue digitale Kamera, aber ich brauchte doch auch ein Abspielgerät.

SZ Wissen: Sie sagen, dass Sie einen Bildschirm brauchten.

Sasson: Wir reden über das Jahr 1975, die Steinzeit der Digitalisierung. Das Programmieren war noch eine furchtbar primitive Angelegenheit und erforderte viel Zeit. Die Informationen mussten digital eingelesen werden, um daraus ein Bild entwickeln zu können. Damals gab es nur 100zeilige Bilder, während amerikanische Fernseher 490 Zeilen hatten, sodass ich die Zeilen künstlich herstellen musste.

SZ Wissen: Wie haben Sie die Kamera zusammengebaut?

Sasson: 1975 gab es überwiegend mechanische Kameras. Als Elektroingenieur dachte ich mir, je mehr Teile ich einspare, desto weniger Fehlerquellen habe ich. Da kam mir die rasante Entwicklung des Taschenrechners zu Hilfe.

In der Schule hatte ich noch mit dem Rechenschieber gearbeitet, auch im Labor war es anfangs nicht viel besser. Wenn ich einen brauchte, musste ich mir einen großen Rechenapparat aus dem Büro ausleihen. Doch plötzlich gab es diese Taschenrechner, die jedes Jahr billiger und kleiner wurden.

Da kam mir der Gedanke: Warum kann die Kamera nicht ein Taschenrechner mit Linse dran sein? Beide haben Knöpfe, in beiden wird etwas berechnet. Wenn ich also das Licht, das ich in mein Gehäuse hereinbekomme, verwandeln und umrechnen kann, dann habe ich doch eine Kamera.

SZ Wissen: Ein Taschenrechner als Kamera - darauf muss man erst mal kommen.

Sasson: Es ging ja nicht von heute auf morgen. Ich legte mir die Sache so zurecht: Es gibt diese Taschenrechner, es muss also möglich sein, auch eine Kamera nach diesem Prinzip zu konstruieren. Die mechanischen Kameras waren die Rechenschieber, aber es gab schon dieses Stück Plastik mit ein paar Leuchtdioden. Das konnte so unendlich viel mehr, und jedes Jahr ging die Entwicklung sprunghaft weiter. Der Taschenrechner bestätigte mich. Zunächst war es ein Traum.

SZ Wissen: Dann war er plötzlich Wirklichkeit.

Sasson: Die Kollegen waren überrascht, dass ein 25-Jähriger so was einfach hinkriegt. Als ich es zusammengebaut hatte, ging ich in Gareths Büro und sagte: "Es funktioniert, wir haben Bilder." Er meinte: "Toll. Wir kommen in dein Labor, damit wir es uns ansehen können."

SZ Wissen: Er hat offenbar gar nicht verstanden, was Sie ihm da anboten.

Sasson: "Nein", sagte ich zu ihm, "es ist ein tragbares Gerät, es ist beweglich." Nicht einmal er wusste, dass ich ein Jahr lang ausschließlich an einer tragbaren Kamera gearbeitet hatte. Das heißt nicht, dass er nicht interessiert gewesen wäre, es war nur nicht so wichtig.

SZ Wissen: So prosaisch stellt man sich den Heureka-Moment eigentlich nicht vor.

Sasson: Andererseits waren es gerade die fehlende Aufmerksamkeit, die Arbeit im Verborgenen, die sehr beschränkten Mittel, die mich zwangen, mit dem, was herumlag, zu arbeiten. Außerdem gab es Kollegen, die mir komische Fragen stellten - auch das hat geholfen.

SZ Wissen: Und wie war das erste Bild?

Sasson: Es zeigte eine Kollegin. Die Aufnahme dauerte 23 Sekunden. Anschließend kam die Kassette, auf der das digitale Bild aufgezeichnet war, in ein Abspielgerät, sodass es auf dem Bildschirm zu sehen war. Allerdings war es da noch nicht haltbar: Wir mussten einen Fotografen kommen lassen, damit der ein analoges Bild von unserem digitalen für den Bericht machen konnte.

SZ Wissen: So primitiv stellt sich der kleine Moritz das aber nicht vor.

Sasson: Die Erfindung der Digitalkamera war eben nicht geplant. Wir zeigten das Ergebnis dem Management. Sie waren neugierig, wollten wissen, wie die Zukunft der Fotografie aussehen würde. Ich schätzte damals, wir würden 20 Jahre brauchen, bis wir beim Kunden ankämen. Wie sich zeigte, lag ich nicht weit daneben. Die Aufnahme entstand mit 10.000 Pixeln, und ich bekam die Aufgabe, die Leistung auf zwei Millionen zu steigern - 200-mal so viel!

SZ Wissen: Ein bisschen undankbar. Da erfindet man eine neue Kamera, und sie sagen: schön weiterarbeiten!

Sasson: Was glauben Sie, wie oft ich mir vor Wut sonst wohin gebissen habe! Ich sagte mir: "Warum tue ich mir das an? Warum musste ich so blöd sein und die neue Kamera ankündigen? Ich hätte einfach ein CCD auf ein Brett montieren und die Reaktionen messen können, und alle wären damit zufrieden gewesen." Jeden Morgen, wenn ich zur Arbeit fuhr, jedes Mal, wenn ich wieder vor einem Problem stand, das ich nicht lösen konnte, musste ich mir sagen: "Ich bin doch verrückt! Das bringt mich noch um!" Mein Leben wäre wirklich ruhiger und weniger anstrengend verlaufen, wenn ich es anders gemacht hätte. Und wissen Sie was? Es wäre gar niemandem aufgefallen.

SZ Wissen: Aber so haben Sie die Digitalkamera erfunden. Als Patentinhaber müssen Sie richtig reich geworden sein.

Sasson: (Er lacht.) Nein, Wissenschaftler und Ingenieure, die in einer Firma arbeiten, sind zwar die Träger des Patents, aber die Einnahmen gehen an die Firma. Das erste von 1978 ist übrigens bereits abgelaufen, aber seitdem sind Tausende neuer angemeldet worden.

SZ Wissen: Sie sind bei Kodak geblieben.

Sasson: Es musste weitergehen mit der Entwicklung. Wir beschäftigten uns mit Bildbearbeitung und kamen auf den Transceiver, die Basis für das heutige JPEG. Der Fernsehsender CBS hat zwei dieser Geräte gekauft; sie nannten es die "Magix Box".

Deshalb waren deren Reporter 1989 in der Lage, über ein mobiles Telefon Bilder vom Tiananmen-Platz in Peking zu senden, obwohl die chinesische Regierung alle Übertragungsmöglichkeiten per Satellit lahmgelegt hatte. Kodak wollte nicht, dass allzu viel darüber berichtet wurde, der Name Kodak wurde daher nicht erwähnt.

SZ Wissen: Trotz des PR-Werts?

Sasson: Die Technik war noch nicht so weit, dass man sie dem Verbraucher anbieten konnte. Das dauerte weitere zehn Jahre. Ich habe die Kameras schon 1990 aufgegeben, war desillusioniert vom Tempo. Ich habe 15 Jahre in diesem Bereich gearbeitet und in der ganzen Zeit kein einziges Produkt aus der Tür gebracht. Ende der Neunzigerjahre war ich mit meiner Frau Cindy im Urlaub im Yellowstone-Park. Da saßen alle um den Geysir Old Faithful, ...

SZ Wissen:... der so heißt, weil er pünktlich alle neunzig Minuten ausbricht ...

Sasson: ... und während wir warteten, sah ich mir die Kameras der anderen Touristen an: Fast die Hälfte hatte bereits eine digitale. "Jetzt ist es so weit", habe ich zu Cindy gesagt, "nach mehr als 20 Jahren." Für mich war das Kapitel digitale Kamera da schon abgeschlossen.

SZ Wissen: Dennoch sind Sie dafür verantwortlich, dass es die klassische Fotografie nicht mehr gibt, weil sich inzwischen die digitale Form durchgesetzt hat.

Sasson: Das gilt aber für alle Erfindungen, für den PC, das Internet, den Tintenstrahldrucker. Jede Erfindung besteht nur im Vergleich mit anderen. Wenn etwas Besseres nachkommt, verschwindet das alte.

SZ Wissen: Zurück in die Zukunft: Wie sieht die der Fotografie aus?

Sasson: Als Ingenieur sind Sie vor allem Problemlöser. Eine Möglichkeit besteht darin, Bilder zu finden und sie zu kategorisieren, zum Beispiel über Gesichtserkennung. Mein Traum ist ein persönliches Google-System.

SZ Wissen: Google Earth für jede Kamera?

Sasson: Nein, ein Suchsystem, bei dem Sie Stichwörter eingeben wie "Cindy", "1985", "im Urlaub" und dann die entsprechenden Aufnahmen erhalten. Ich nehme an, dass wir bald Stadt und Land auf Bildern auseinanderhalten können oder Winter und Sommer. Es wäre eine neue Art von Erkennungssystem.

SZ Wissen: Ich nehme an, Sie fotografieren selber auch und haben viel zu viele Aufnahmen. Schauen Sie sich alle Fotos an?

Sasson: Ich versuche diszipliniert zu sein. Früher hatte ich meine Fotos in alten Schuhschachteln, das war auch nicht viel besser. Ich versuche, sie ordentlich zu beschriften oder zu betexten. Am Bildschirm bin ich aber ein undisziplinierter Spaziergänger. Ich suche ein bestimmtes Bild und schweife dann ab, gehe dahin und dorthin, verliere mich auch manchmal. Es sind so viele.

SZ Wissen: Hat sich das klassische Foto inzwischen nicht überlebt?

Sasson: Aber nein, wir werden immer Bilder machen. Die Fototechnik bestimmt unser Leben: Wir werden gezwungen, uns anständig zu benehmen, ordentlich aufzutreten, zu lächeln, weil es ja sein kann, dass wir von irgendwo aufgenommen werden.

SZ Wissen: Auch nicht unbedingt eine schöne Vorstellung für die Zukunft. Und dieses erste Bild, haben Sie das noch?

Sasson: Nein, das gibt es nicht mehr. Ich glaube, die Kollegin, die drauf war, ist ganz froh darüber. Sie hasste das Bild. Aus sentimentalen Gründen habe ich nur die Kamera behalten.

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