Digitalisierung:Haltet die Welt an, ich will aussteigen

BioFach-Messe 2012

Von der Industrialisierung bis zum ersten Bio-Mainstream verstrichen mehr als 150 Jahre. Es bleibt zu hoffen, dass sich das gedankenlose Konsumverhalten in der digitalen Welt schneller verändert.

(Foto: dpa)

Mit Bioläden wehrte sich die Gesellschaft gegen das Industriezeitalter. Bewussten Konsum von digitaler Technik praktiziert heute aber fast niemand. Dabei könnte Facebook auf diesem Weg irgendwann so unbeliebt werden wie Schlecker.

Von Volker Bernhard

Das Jahr begann mit einem Aufschrei. Angeblich war durch das Inkrafttreten eines neuen Gesetzes die Durchsetzung der Meinungsfreiheit nun sinistren Agenten der Privatwirtschaft überantwortet worden. Denn das neue Netzwerkdurchsetzungsgesetz verpflichtet seit Jahresbeginn kommerzielle soziale Netzwerke mit mehr als zwei Millionen Nutzern zur Sperrung rechtswidriger Inhalte. Allein, was genau sind rechtswidrige Inhalte in sozialen Medien? Und sollten die betreibenden Unternehmen aus dem Silicon Valley darüber entscheiden dürfen?

So kam es zu einer Welle an Sperrungen von Nutzerbeiträgen auf Facebook und Twitter - und zu einer überdrehten Empörung darüber. Unabhängig davon, wie berechtigt diese Erregung sein mochte, illustriert sie vor allem die unleugbare Abhängigkeit der Öffentlichkeit von jenen sozialen Medien, die das Silicon Valley betreibt. Worauf basiert diese Abhängigkeit? In erster Linie auf der Entscheidung von Menschen, diese Plattformen ständig zu nutzen. Allein im Falle Facebooks sind das mehr als zwei Milliarden Nutzer weltweit.

Gerade dreht sich die digitale Großwetterlage vom Hoch zum kühlenden Tief

Das Suchtpotenzial der sozialen Medien wurde in unzähligen Studien beschrieben. Ratgeber empfahlen gar den zeitweisen Verzicht aufs Digitale, den sogenannten Digital-Detox. Doch Facebook, Google und Amazon mögen intransparent agieren und unsere Daten nach Belieben verhökern. Trotzdem scheinen sie für den Alltag unverzichtbar zu sein: Man googelt, setzt sich dem Facebook-Mob aus und der Allesversender Amazon ist so erfolgreich, dass in Deutschland die Fußgängerzonen aussterben. Wie kann das sein in einem Land, in dem sonst Nachhaltigkeit, lokale Produkte und bewusster lokaler Konsum großgeschrieben werden - von denselben Leuten, die nun seins- und datenvergessen den Rattenfängern des Valley hinterherlaufen?

Warum also taugen Biobeeren und Milchersatzprodukte zu Distinktionsgewinn, während in der digitalen Welt immer noch gedankenlos gesurft, geshoppt und kommuniziert wird? Die große Laktosefreiheit in den Fängen von Datenkraken mutet seinsvergessen an. Und warum werden Facebookverweigerer oder Nutzer verschlüsselter Messenger oft zu bemitleidenswerten Außenseitern, zu schrulligen Kellernerds mit komischer Agenda?

Doch ganz offensichtlich dreht sich gerade die digitale Großwetterlage vom kalifornischen Hoch zum kühlenden Tief. Facebook weht der kalte Wind schon um die Nase, es hagelt aktuell schlechte Nachrichten: Werbekunden drohen mit dem Absprung, Gerichte und Regulierungsbehörden unterbinden die AGB-Willkür und setzen Grenzen. Und dann liefert das Magazin Wired in seiner jüngsten Ausgabe eine Reportage mit gewaltiger Sprengkraft: Wer danach noch bei Facebook bleibt, ist selber schuld. Vielleicht aber taugt diese Ausgangssituation dazu, um eine Parallele zwischen der zarten ersten Digitalkrise und dem damaligen Bio-Erwachen zu ziehen. Könnten die aktuellen Fortschritte in der Wertschätzung von Bio-Produkten nicht auch als Blaupause für eine veränderte Konsumentenethik des Digitalen dienen?

Die Digitalisierung wird oft mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert verglichen. In beiden Fällen haben wir es mit einem grundlegenden Wandel der Produktions- und Lebensweisen durch technischen Fortschritt zu tun. Eine Reaktion auf die Industrialisierung war die Rückbesinnung auf den Körper und die Natur, so wie bei den Lebensreformbewegungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Unter dieser Bezeichnung werden Versuche subsumiert, dem Unbehagen in der industrialisierten Gesellschaft zu begegnen: von ökologischer Landwirtschaft über Alkohol- und Tabakverzicht, Vegetarismus, klassizistische Mode, Naturheilkunde und Freikörperkultur bis zu spirituellen Konzepten.

Der Konsum alternativer Produkte war ebenfalls Teil lebensreformerischer Bestrebungen. Vollkornbrot und vegetarische Brotaufstriche konnten in speziellen Läden erworben werden. 1887 eröffnete Carl Braun in Berlin die "Gesundheits-Zentrale", ein Geschäft für Reformwaren. 1909 gründeten 18 Unternehmer die Vereinigung Deutscher Reformhausbesitzer, später entwickelte sich daraus eine Genossenschaft unter dem heute noch gängigen Namen "Reformhaus". Vertriebsnetze sind entscheidend für die Etablierung alternativer Konsumangebote - das zeigt auch die Geschichte der Bioläden.

Diese sind ein fester Teil des heutigen Ökologiebewusstseins, der erste deutsche Bioladen eröffnete 1971 in Berlin. Das Betreiben eines Bioladens war anfangs eine politische Intervention. Kunden teilten die ideologischen Überzeugungen der Läden und beteiligten sich aktiv am Geschäftsalltag. Atomkraftgegner, Friedensbewegte und Bürgerinitiativen nutzten die Bioläden als Treffpunkt. Der Unternehmer war dem Selbstverständnis nach ein "Ladner", die Gewinne waren eher überschaubar.

Datenschutzsensible E-Mail-Anbieter profitierten von den Snowden-Enthüllungen

Bereits Mitte der 1970er existierte der erste Großhändler, 1983 dann die erste Fachmesse namens "Müsli". Zur selben Zeit begann die Definition und Überprüfung des "Bio"-Siegels durch Kontrollinstanzen. In den 90er-Jahren verschwand mit der Professionalisierung die Ladenkultur weitgehend, der alternative Lebensansatz wandelte sich zum alternativen Konsumangebot. Bis zur jetzigen Selbstverständlichkeit vom Bio-Supermarkt um die Ecke und Bio aus dem Discounter waren es dann noch ein paar Jahre, befeuert durch den einen Zeitgeist, der Ernährung, Gesundheit und Nachhaltigkeit verbindet.

Die Geschichte dieser Bio-Karriere zeigt drei Faktoren, wie alternative Konsumangebote in den Mainstream vordringen können: Zeit, Infrastruktur und ein Trend, der erst nur eine bestimmte Zielgruppe anspricht, um schließlich in geglätteter Form in den breiten Markt zu gelangen.

Vom Beginn der Industrialisierung bis zum heutigen Bio-Mainstream vergingen mehr als 150 Jahre. Da die Silicon Valley-Zeitrechnung über eine entschieden höhere Taktung verfügt, steht zu hoffen, dass diesmal eine Reaktion der Konsumenten auf den technisch-gesellschaftlichen Umbruch schneller erfolgt. Das rasante Auf und wieder Ab einst gehypter Seiten wie Myspace zeigt ja eindrucksvoll, dass sich eine Abkehr von digitalen Angeboten schnell vollziehen kann.

Die im Jahr 2013 mit den Enthüllungen Edward Snowdens einsetzende globale Überwachungs- und Spionageaffäre katalysierte nur in wenigen Milieus ein Bewusstsein für die Notwendigkeit eines veränderten Umgangs mit dem Netz, von Wut und pädagogischem Eifer getriebene Essays und Symposien verhallten weitgehend. Dennoch bekamen die großen Technologiekonzerne den Druck der Konsumenten zu spüren, als Nutzer mit dem Wechsel auf eine andere Messenger-App reagierten. Die kostenlosen Dienste Signal und Telegram etwa ermöglichen verschlüsseltes Chatten. Sie wuchsen von 2013 an rasant. Marktführer Whatsapp musste nachziehen, auch wenn bei dem Unternehmen aus dem Facebook-Universum weiterhin Metadaten über Nutzer und Nutzung erhoben und verwertet werden.

Zu fast allen Diensten großer Technologiekonzerne gibt es Alternativen

Datenschutzsensible und werbefreie E-Mail-Anbieter wie Mailbox.org oder Posteo, beide übrigens Unternehmen aus Berlin, profitierten von den Snowden-Enthüllungen. Seit 2009 auf dem Markt, hatte Posteo im Sommer 2013 etwa 10 000 Kunden. Inzwischen führt das Unternehmen eine Viertelmillion Postfächer, gewachsen allein durch Mundpropaganda. Die Akzeptanz, für deren Leistungen Geld - in diesem Fall einen Euro pro Monat - zu bezahlen, wuchs seit den Enthüllungen rasant. Das Kreuzberger Unternehmen praktiziert idealtypisch die Verzahnung von ökologischem Bewusstsein und überlegtem Konsum im Netz: Server werden mit Ökostrom betrieben, Spenden an NGOs verteilt, es kommen sozial-ökologische Banken zum Einsatz. Natürlich gelangen die Mitarbeiter mit Fahrrad und Nahverkehr zur Arbeit, wo sie sich auf einen bio-vegetarischen Mittagstisch freuen.

Für anonymes Surfen im Netz kann man den Tor-Browser benutzen, die Geschwindigkeit ist durch Anonymisierung gedrosselt. Das ist unbequem, doch bei Bioprodukten werden Unannehmlichkeiten auch akzeptiert. So kann man die Suchmaschine Startpage bewerten, mit der die Google-Suche anonymisiert wird. Auch wenn diese Alternativen nicht permanent verwendet werden, bedeuten sie doch kleine Schritte, um den großen Technologiekonzernen persönliche Daten vorzuenthalten. Wie bei Bioprodukten, von denen sich die wenigsten ausschließlich ernähren.

Die Wahl von Browser und E-Mail-Adresse sowie die Verweigerung, bei Amazon zu shoppen, sind individuelle Entscheidungen. Bei sozialen Medien und Messengern wird es schon kniffliger. Denn der Gruppendruck in der digitalen Welt ist enorm, Alternativen sind rar gesät. Die Freunde sind bei Facebook, gearbeitet wird mit Google Docs und gechattet bei Whatsapp - das ist bequem, schließlich sind dort viele registriert. Doch auch der Fleischzwang in bürgerlichen Haushalten erschien vor einigen Jahrzehnten noch alternativlos, bis eine neue Generation die Anerkennung eigener Überzeugungen einforderte. Vegetarismus ist kein Stein des Anstoßes mehr.

Für die meisten Dienstleistungen großer Technologiekonzerne gibt es datenschutzverträgliche Alternativen. Es fehlen aber die Überzeugungstäter, die wie bei den Anfängen der Bioläden im Freundes- und Bekanntenkreis vielleicht etwas militant wirken, aber sachlich ihre Befürchtungen darlegen. Außerdem fehlt der digitalen Konsumentenethik ein positives Image, das Zeigefingerpädagogik in annehmbare Vorschläge verwandelt.

Vielleicht haben wir irgendwann bei dem Wort "Programmierer" nicht nur die braven Soldaten des Silicon-Valley-Kapitalismus vor Augen, die in klimatisierten Googlebussen durch kaputtgentrifizierte Vororte zu ihrem All-inclusive-Arbeitsplatz düsen. Vielleicht ist dann der Hacker kein wahlsabotagewilliger Störrusse mehr, sondern eine subversive Figur cooler Hipness. Vielleicht gehört unverschlüsseltes Surfen und Chatten dann zur grauen Netz-Vorzeit und Facebook genießt dasselbe Ansehen wie zuletzt die Drogeriekette Schlecker.

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