Digitalisierung in Deutschland:"Als würde man einen neuen Kontinent entdecken"

Prof. Dr. Christoph Meinel Geschäftsführung HPI

Christoph Meinel, 64, hat an der Humboldt-Universität in Berlin Mathematik und Informatik studiert. Seit 2004 ist er Leiter und Geschäftsführer des Hasso-Plattner-Instituts in Potsdam.

(Foto: Stefan Berg/HPI)

Christoph Meinel, Leiter des Hasso-Plattner-Instituts, hadert mit Deutschlands zögerlichem Umgang mit der Digitalisierung. Ein Grund dafür? "Es geht uns zu gut."

Interview von Michael Bauchmüller und Stefan Braun

Verlustängste, fehlender Mut zum Neuen, dazu Schulen, die dramatisch hinterher hinkten - der Informatiker Christoph Meinel hält Deutschlands Umgang mit der Digitalisierung für zu zögerlich.

SZ: Herr Meinel, alle Welt spricht davon - mal mit Lust und großen Hoffnungen, mal mit Misstrauen und Ängsten. Was ist das eigentlich - die Digitalisierung?

Christoph Meinel: Digitalisierung ist in der Menschheitsgeschichte etwas ganz Neues. Als das Rad erfunden, die Pyramide erbaut, die Landmaschine geschaffen wurde, fand das immer im Rahmen unserer physikalischen Welt statt. Unter den Gesetzen der Schwerkraft und der Mechanik. So wie wir das kannten. Wir waren vorbereitet. Die Erfahrung lehrte uns, dass die Überwindung von Entfernungen Anstrengung bedeutete, Kraft erforderte und Zeit. Die Menschen wussten, dass sie nicht gleichzeitig an verschiedenen Orten Wirkungen erzielen können. Durch die Digitalisierung ändert sich das, es kommt eine zweite Ebene mit ganz anderen Gesetzmäßigkeiten ins Spiel.

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Eine zweite Ebene?

Wir können über virtuelle Verbindungen Wirkungen am anderen Ende der Welt erzielen. Wir können sekundenschnell Informationen über Zustände dort bekommen und darauf reagieren, auch wenn das ganz weit weg ist. Wir können das; andere können es aber auch bei uns. Das stellt uns vor ganz neue Möglichkeiten und neue Herausforderungen. Und keiner kann uns den Weg weisen, wie wir damit umgehen.

Wie meinen Sie das?

Bislang konnten wir immer schauen, wie es die Eltern gemacht haben. Oder die Großeltern. Wir ahnten, was nötig war, damit wir schneller werden und von der Kutsche aufs Auto umsteigen konnten. Es war klar, dass man dafür breitere, stärker befestigte Wege braucht und mehr Energie für den Antrieb. In der virtuellen Welt gibt es das alles nicht. Wir können niemanden fragen, wie man damit umgeht, in Lichtgeschwindigkeit am anderen Ende der Welt etwas auszulösen. Wie man damit umgeht, dass Daten, die einmal in der Welt sind, nicht wieder gelöscht werden können. Wir wissen es nicht und müssen das mühsam ertasten und erlernen. Wir bewegen uns in einer Welt, in der wir alle gemeinsam experimentieren. Deshalb fand ich es schon infantil, als man vor einigen Jahren die Kanzlerin ausgelacht hat, als sie vom "Neuland" sprach. Es ist genau das: Neuland.

Macht Ihnen das Ungewisse Angst?

Aber nein. Das ist eine tolle, spannende Zeit. Es ist so, als würde man einen neuen Kontinent entdecken und das Ende der Entdeckungsreise nur in Umrissen erahnen. Wir kommen allmählich in ein Stadium, in dem sich nicht nur ein paar Freaks und Experten dafür interessieren, sondern alle anderen dazukommen. Das regt manchen der Pioniere auf, die bislang fröhlich frei alleine unterwegs waren. Plötzlich wollen alle mitmachen.

Was bedeutet das?

Dass nicht mehr das Recht des Stärkeren gelten kann. Zivilisation ist dazu da, dass jeder sein Recht bekommt, nicht nur die Starken, hier ein paar frühe Experten. So weit sind wir allerdings noch nicht. Aber wir müssen dorthin kommen. Die Mechanismen und Regeln der Zivilisation müssen auch in den virtuellen Raum einziehen.

Wie kann man etwas regeln, das schon morgen ganz anders sein kann?

Viele Situationen sind offen, das stimmt. Deswegen rate ich Politikern immer, in alle Gesetze eine Experimentierklausel einzubauen, um Erfahrungen sammeln zu können und nicht gleich endgültige Beschlüsse zu fassen. Es ist wichtig, dass Regulierung stattfindet, auch wenn wir manche Effekte noch nicht verstehen. Aber die Regulierung darf auf keinen Fall zu starr sein, sonst blockieren wir uns und schneiden uns ab von den Segnungen der neuen Welt.

Kann ein Nationalstaat in dieser neuen Welt noch alleine Regeln setzen?

Das ist ein großes Problem, und es ist für Staaten eine ganz neue Erfahrung. Bisher wurden internationale Fragen durch internationale Absprachen oder Verträge geregelt. Das aber braucht noch viel mehr Zeit als nationale Gesetzgebung. Also brauchen wir auch hier neue Lösungen. Es gibt ja jede Menge Probleme: Was ist im digitalen Raum erlaubt? Was ist verboten? Wo werden im digitalen Raum erwirtschaftete Gewinne versteuert? Wo findet die digitale Wertschöpfung eines Unternehmens statt? Alles drängende Fragen, auf die es heute noch keine fertigen Antworten gibt.

"Ich brauche nur noch mein Smartphone"

Nicht alle denken wie die Deutschen. Die USA überlassen alle Daten Privaten; China dagegen hat alle Daten verstaatlicht, um die Entwicklung zu steuern. Ist das ein Wettlauf der Systeme?

Eindeutig ja. Dahinter steht ein riesiger Wettbewerb; es geht darum, was wir aus den neuen Möglichkeiten machen. Aus der Rechenleistung, die uns zur Verfügung steht; aus den Daten, die wir gewinnen können. Es geht um die wirtschaftliche Erschließung und Besetzung des neuen digitalen Kontinents. Unternehmen und Forschungsinstitutionen versuchen, in diesem neuen Raum Geschäftsideen zu entwickeln. Wir in Deutschland und Europa sind dabei aber nicht so gut wie die Genannten.

Warum nicht?

Vielleicht, weil es uns zu gut geht und viele Menschen gar nicht so einen großen Bedarf an Fortschritt und Veränderung haben. Veränderungen erzeugen Unsicherheit und machen Angst. Andere Länder, die nicht über den Wohlstand verfügen, sind gieriger. Sie sehen die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft als ihre große Chance, um aufzuschließen und uns vielleicht sogar zu überholen.

Welche Länder meinen Sie?

Vor allem China, Indien, aber auch andere Staaten in Asien und Südamerika.

Und die USA?

Der angelsächsische Raum mit einem mehr freiheitlichen Gesellschaftsmodell ist traditionell offener für Innovationen. Daher auch die vielen erfolgreichen Geschäftsideen von dort. Sie probieren aus. Sie suchen andauernd selbst ihr Glück. Und das mit der unglaublich wichtigen Einstellung, dass man mit einer Idee auch mal scheitern kann. Wie viele spätere Milliardäre haben am Anfang Dinge in den Sand gesetzt? Und dann kamen eben doch die zündenden Ideen und mit ihnen der Geschäftserfolg. Der Unterschied zu früher ist nur, dass das in der digitalen Welt rasend schnell und mit globaler Resonanz geht. Dass man nicht nur Ideen schnell in neue Produkte und Dienstleistungen verwandeln kann, sondern auch Kunden weltweit binnen Sekunden erreichen kann. Und dass dadurch schnell Monopole entstehen.

Monopole hat es immer mal gegeben.

Richtig. Solche Effekte gab es auch in der frühen Phase der Elektrifizierung, mit Konzernen wie General Electric und Siemens. Aber selbst in den USA wird mittlerweile die Frage gestellt, wer Unternehmen wie Amazon, Google, Apple noch kontrollieren und bändigen kann. Gleichzeitig sind das die wirtschaftlich innovativsten Lokomotiven, die wir auf der Welt haben. Ob Alibaba in China oder eben Google in den USA.

Können sie genauso schnell verschwinden, wie sie gekommen sind?

Es gibt bei technischen Entwicklungen immer heiße Phasen, denen eine Abkühlung folgt. Gerade sind wir in einer sehr heißen Phase. Denken Sie nur an die verschiedenen Rechengeräte, die man zu Hause hatte und alle paar Jahren ersetzt werden mussten. Mit dem Cloud-Computing kommt es hier zu einer Konsolidierung. Die Rechner verschwinden wie hinter einem Vorhang und müssen uns Nutzer nicht mehr beschäftigen. Damit müssen sich nur noch die Profis befassen. Wir alle können dank Internet und Cloud darauf bauen, an jedem Ort auf die Rechenkraft und Speichermöglichkeiten zuzugreifen, die wir gerade brauchen.

Welche Folgen hat das?

Ich brauche nur noch ein Anzeigegerät, keinen PC mehr, der alles selbst rechnet. Ich brauche nur noch mein Smartphone. Die Rechnerentwicklung, die uns bislang beschäftigt und auch immer etwas verunsichert hat - dass sich die Speichermedien ändern, Betriebssysteme, Anwendungsprogramme, Architekturen - das betrifft uns nun nicht mehr. Wenn Sie an die Anfangsphase zurückdenken: Da hatten wir alle einen PC zu Hause, der den Zugang zur virtuellen Welt gewährte. Der Computer war nach drei Jahren nicht mehr aktuell, und nach fünf Jahren musste er ausgetauscht werden. Da gab es große Disketten, kleine Disketten, CD-Roms und Sticks - all das verliert heute radikal an Bedeutung. Der Nutzer klickt - aber wo die Daten herkommen, das muss ihn nicht mehr interessieren.

Ist Deutschland gut aufgestellt?

Ich würde mir wünschen, dass Deutschland auch in der neuen Zeit die führende Rolle spielt, die es heute im ausgehenden Industriezeitalter spielt. Aber die Karten werden neu gemischt. An China sieht man das sehr deutlich. Es sind gerade auch die digitalen Technologien, die China zu dem neuen Wohlstand verhelfen. Wenn wir Europäer nicht aufpassen, sind wir in diesem Rennen nicht mehr dabei.

Hat die Regierung das verstanden?

Die Kanzlerin hat das verstanden, besser als viele andere Politiker. Aber es gibt ein anderes Problem, das dazu führt, dass Politiker nicht mehr offen über Probleme und mögliche Entwicklungskonflikte sprechen: Sie haben Angst, ins moralische Kreuzfeuer zu geraten.

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