Süddeutsche Zeitung

Digitalisierung:Die den Code der Welt von morgen schreiben

Welche Verantwortung tragen Softwareentwickler für die gesellschaftlichen Veränderungen, die sie vorantreiben? Die Antwort ist komplexer, als es der Mythos vom Programmierer als Rockstar erscheinen lässt.

Von Johannes Kuhn

Ein Streifzug durch Meldungen aus den vergangenen zwölf Monaten: In Großbritannien verteilte die BBC eine Million programmierbare Mini-Computer an Siebt- und Achtklässler. In Finnland ist Coding - als das Schreiben von Computerprogrammen - seit diesem Schuljahr schon ab der ersten Klasse Teil des Lehrplans. Programmier-Klassen für Kinder sind in China inzwischen so begehrt, dass eine Code-Schule in Peking ihre Teilnehmerzahl innerhalb eines Jahres von 40 auf 5000 steigern konnte. Und General-Electric-Chef Jeff Immelt kündigte an, dass alle neuen jungen Mitarbeiter Programmierkurse durchlaufen werden, "egal, ob sie im Verkauf, dem Finanzwesen oder im operativen Geschäft tätig sind".

Programmierkenntnisse sind gerade nicht nur in Mode, sondern längst zum Zeichen für die Überlebensfähigkeit von Unternehmen und für hochentwickelte Wirtschaften geworden, die im Zeitalter der Digitalisierung nicht den Anschluss verpassen wollen. Zugleich gelten sie auch als Schlüsselqualifikation für jeden Einzelnen, der sich mit der Überführung seiner Arbeitsumgebung in Software früher oder später damit beschäftigen muss, was hinter der Nutzeroberfläche geschieht.

Die EU-Kommission schätzt, dass alleine die Digitalisierung der europäischen Industrie in den kommenden fünf Jahren jeweils 110 Milliarden Euro zusätzlicher Erlöse jährlich einbringen könnte. Zugleich fehlen bis 2020 etwa 800 000 ausgebildete Mitarbeiter, um die Digitalisierung voranzutreiben. Und 40 Prozent der Europäer haben noch unzureichende Fähigkeiten im Umgang mit digitaler Infrastruktur. Und damit sind nicht etwa Programmierkünste, sondern schlichte Alltagstätigkeiten gemeint.

Wie Science-Fiction

"Programmiere oder werde programmiert", hat der Medientheoretiker Douglas Rushkoff einmal zugespitzt die Wahlmöglichkeiten des modernen Menschen formuliert: die Digitalisierung in der passiven Rolle als Konsument und Objekt zu erleben oder aktiv den Code der Welt von morgen zu schreiben.

Letzteres kommt vielen Menschen vor wie Science-Fiction, die Welt der Nullen und Einsen als hermetisch abgeschottet und von Geheimbünden verwaltet. Die mediale Stereotypisierung der Digitalisierung des vergangenen Jahrzehnts hatte daran Anteil, wenn Algorithmen als unsichtbare Lenker der modernen Welt und Programmierer als Nerd-Genies (Mark Zuckerberg, Bill Gates) oder zwielichtige/autistische/idealistische Hacker (Bildschirm-Werke wie "Mr. Robot", "Matrix") dargestellt wurden. Auch die Technologie-Branche selbst hat mit ihren Mythen vom "Rockstar-Programmierer" oder dem "10x Developer", einem Ausnahmetalent mit zehnfachen Fähigkeiten eines mittelmäßigen Softwareentwicklers, zu einem verzerrten Bild des Berufsstandes beigetragen.

In Wahrheit bedeutet Programmieren zunächst einmal, die Funktionslogik von Computern zu verstehen und sie dann mit Hilfe verschiedener Werkzeuge Probleme lösen zu lassen. Weil diese Werkzeuge sich aber schneller als anderswo verändern, lebt manch ehrgeiziger Softwareentwickler in steter Furcht, wichtige Trends in Sprachen und Programmiergerüsten zu verpassen und so den Anschluss zu verlieren.

"Ein Arzt muss sich mit 40 keine Sorgen machen, dass all sein Wissen über das Gefäßsystem plötzlich verschwindet und durch ein neues Organisationsprinzip ersetzt wird", klagte jüngst der Programmierer Ben Northrop, "der Anwalt, Klempner, Buchhalter oder Englischlehrer wahrscheinlich auch nicht." Auch Outsourcing, Automatisierung von Arbeitsschritten oder der Import billigerer Programmier-Talente aus Osteuropa und Asien, wie er vor allem in den USA üblich ist, machen viele Entwickler - freiwillig oder unfreiwillig - zu lebenslangen Lernern.

Dieser Hintergrund ist wichtig, um einen zentralen Konflikt verstehen zu können. Der einzelne Entwickler ist trotz aller Schaffenskraft kein Prometheus der Digitalisierung. Als Ganzes jedoch darf man dem Fach durchaus weltverändernde Wirkung unterstellen. Wie groß aber ist der Einfluss des Einzelnen auf die Welt, an deren Bau er beteiligt ist?

Vor Kurzem stellte der kanadische Entwickler Bill Sourour einen Blogeintrag mit dem Titel "Code, für den ich mich immer noch schäme" ins Netz. Dort beschrieb er, wie er als 21-Jähriger einen Online-Gesundheitstest für Frauen programmiert hatte. Dieser empfahl unabhängig von den Antworten stets das Produkt einer Pharma-Firma, die den Test in Auftrag gegeben und ihm den Anschein einer echten Ratgeber-Seite gegeben hatte.

In Entwicklerkreisen fand der Beitrag schnell virale Verbreitung: Weitere Programmierer beichteten anonym große und kleine Sünden zulasten von Internet-Nutzern, andere schilderten, wie sie in Meetings ethische Bedenken geäußert hätten und schließlich von Produktmanagern überstimmt worden seien. Am Ende habe jeweils ein einziges Argument alle anderen übertrumpft: Die Notwendigkeit, die vorgegebenen Kennzahlen zu erreichen, ob in Daten-Akquise oder Umsatz. Und ohne astronomische Kennzahlen kein Risiko-Investment oder Wachstum an der Börse.

Einem solchen "Dark Pattern" genannten Trick, wie ihn Sourour beschreibt, ist wahrscheinlich jeder Internetnutzer schon einmal begegnet - häufig mit lästigen Folgen wie unbestellten E-Mail-Newslettern. Allerdings wächst in Zeiten von Massenanwendungen, heiklen Vorhaben wie dem "Internet der Dinge" oder schwer abschätzbaren Technologien wie künstlicher Intelligenz das mögliche Schadensausmaß und damit auch die Verantwortung. "Als Softwareentwickler sind wir oft eine der letzten Verteidigungslinien gegen gefährliche und unethische Praktiken", hat Sourour in seinem Blog notiert.

Obwohl Computerethik häufig Teil des Informatikstudiums ist, werden solche Fragen bislang meist in kleinem Rahmen oder in Fachgruppen diskutiert. Entwickler gelten, nicht nur wegen der hohen Zahl von Quereinsteigern, als schwer zu organisieren. Das sei, "als würde man versuchen, Katzen in einer Herde zu führen", lautet ein geflügeltes Wort aus der Dotcom-Zeit. Eine Art hippokratischen Eid wie bei Ärzten gibt es nicht - die Bedeutung des Fachs war nicht von Anfang an erkennbar und wuchs dann in kürzester Zeit rapide.

Nicht jede ethische Frage ist so offensichtlich wie die nach der Einrichtung einer Datenbank für muslimische US-Amerikaner. Diesen vom künftigen US-Präsidenten Donald Trump ins Auge gefassten Vorschlag, versprachen kürzlich 1200 Mitarbeiter amerikanischer Internet-Konzerne in einem offenen Brief, würden sie sich weigern umzusetzen.

Könnten solche Positionierungen künftig bereits in einem Berufsethos verankert sein? Aus humanistischer Perspektive betrachtet erscheint das logisch. Andererseits existiert bereits heute Software, um Menschen auszuspionieren, nach problematischen Mustern zu klassifizieren oder sie sogar per Drohne zu töten. Alles von Entwicklern programmiert.

Ruf nach mehr Frauen

Die Frage, wie Software unsere Gesellschaft verändern wird, welche Formen von Teilhabe oder Ausgrenzung sie ermöglicht, wird in den kommenden Jahren immer neu und unerwartet beantwortet werden. Der Ruf nach mehr Frauen und Vertretern von Minderheiten in der Entwickler-Gemeinde ist auch verbunden mit der Hoffnung auf Produkte, die mit den Werten der Gesellschaft übereinstimmen.

Aus dieser Perspektive erscheint es sowohl wirtschaftlich als auch zivilisatorisch geboten, dass möglichst große Bevölkerungsteile programmiertechnische Grundkenntnisse erwerben und diese auch anwenden können. Andererseits ist auch in der recht verwöhnten Spitzen-IT ein Negativ-Szenario vorstellbar: Dort lässt ein Überangebot auf dem - sowieso vom Faktor geografischer Standort entkoppelten - Arbeitsmarkt den individuellen ökonomischen Druck so weit steigen, dass Gewissensfragen ohnehin nur noch Luxus sind.

Dies wäre ein Spiegelbild vieler Berufsfelder im Zeitalter globalisierter Konkurrenz. Nicht wenige glauben, dass mancher Internetkonzern schon heute vielen seiner Mitarbeiter schmerzende Gewissensbisse aberzogen hat - schlicht dadurch, dass er seinen Mitarbeitern zügigen Wohlstand versprach. Auch hier gilt das Dilemma der Wirtschaft des 21. Jahrhunderts: Die ethische Handlungsfreiheit des Einzelnen ist nur schwer zu trennen von unser aller Verantwortung für das System, in dem dieser Einzelne agiert.

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Quelle:
SZ vom 03.01.2017/mri
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