Digitalisierung:Das Internetcafé lebt

Lesezeit: 6 min

Ein Leipziger Internetcafé im Jahr 2000. Heute sehen die Länden anders aus - doch sie erfüllen noch immer den gleichen Zweck. (Archivbild) (Foto: DPA)

Die Surf-Läden wirken wie aus der Zeit gefallen, aber viele Menschen sind immer noch auf sie angewiesen. Ein Besuch in einem verrauchten Hinterzimmer in Berlin Neukölln.

Von Sebastian Gluschak

Speak English???" Gladis Olatunjis kräftige Frauenstimme schallt durch das verrauchte Hinterzimmer eines Spätkaufs im Berliner Stadtteil Neukölln. 24 Computer mit Netzzugang sind hier aufgebaut, der Raucherteil ist durch eine Glastür vom Rest des Ladens getrennt. Aber weil ständig Leute hin und her gehen und die Tür offen lassen, steht der kalte Qualm auch im Nichtraucherraum, wo Olatunji andere Besucher lautstark um Übersetzungshilfe bittet. Aber keiner reagiert, alle haben Kopfhörer auf und starren auf die Bildschirme.

Leicht verzweifelt schlängelt sich die Mutter mit ihrem Kinderwagen durch den engen Gang und setzt sich an Rechner Nummer sieben. Mit Argwohn betrachtet die 35-Jährige die Computermaus, schiebt sie hin und her, weiß nicht worauf sie klicken soll. Sie murmelt leise etwas Unverständliches, drückt wahllos auf der Tastatur herum, blickt wieder nach rechts und links.

Tische aus zurechtgeschnittenen Holzspanplatten, High-Tower-Deskop-PCs, ein angeschlossener Drucker und viele Aschenbecher: Ein Besuch im "Tele-Internet" auf der Neuköllner Erkstraße ist eine Zeitreise. Zurück zur Jahrtausendwende, als nicht einmal 40 Prozent der deutschen Haushalte einen Internetzugang hatten, als das Handy tatsächlich noch zum Telefonieren da war, und die meisten privaten Internetkunden nicht pro Monat, sondern pro heruntergeladenem Megabyte zahlten. Wer denkt, ein Internetcafé sei ein seltenes Relikt, irrt: Vom Hermannplatz in Neukölln etwa sind mehr als 20 davon in weniger als zehn Laufminuten zu erreichen, auch in anderen Stadtzentren ist die Dichte nach wie vor hoch.

Digitalisierung
:Wie das Internet unser Gehirn verändert

Online bleiben, ohne den Verstand zu verlieren - dazu forscht der Mediziner Jan Kalbitzer. Er warnt vor Panikmache und davor, auf andere herabzublicken, weil sie in der "falschen" Filterblase stecken.

Interview von Juliane Liebert

Wer nutzt eigentlich noch Internetcafés?

Seit 1991 in den Vereinigten Staaten das erste privatbetriebene Internet-Café öffnete, ist das World Wide Web zu mehr als nur ein Zeitvertreib in Kaffeepausen geworden. Ganze Staatsökonomien setzen auf den digitalen Wandel, die sogenannten Millennials erheben das mobile Internet zum festen Bestandteil ihrer Bedürfnispyramide, Tech-Start-ups gelten als Garanten für neue Arbeitsplätze. Das Internet ist heute laut Bundesgerichtshof ein Grundrecht, es ist omnipräsent und ab zehn Euro monatlich unbegrenzt nutzbar. Dass in diesen Zeiten Menschen immer noch in Internetcafés gehen, lässt vermuten: Nicht überall in der Gesellschaft ist die Digitalisierung voll angekommen. Wer sind die Menschen, die noch immer Internetcafés brauchen?

Es sind Menschen wie Gladis Olatunji. "You need help?" fragt endlich ein anderer Gast nach: Sie reißt ihre Augen auf, rückt ihr Kopftuch zurecht: "Yes, yes please." Sie müsse dringend ein Ticket ausdrucken, heute Abend gehe ihr Bus nach Italien. Dort lebe ihr Bruder, er habe ihr das Ticket gekauft. Das Problem: Sie habe keine E-Mail-Adresse, das habe sie ja noch nie gebraucht, genauso wenig wie einen Computer. Während sie das sagt, zieht sie beiläufig ein Tablet aus ihrer Lederhandtasche, öffnet Whatsapp und zeigt dem geduldigen Helfer die Zugangsdaten zum E-Mail-Postfach einer Freundin. Olatunji nutzt das mobile Netz wie selbstverständlich, das stationäre hat sie übersprungen - aber jetzt braucht sie es auf einmal.

Die Kunden haben zwar ein Smartphone, aber keinen Laptop

An der Kiosk-Kasse steht Bülent Kilic und rechnet ab. Der hagere Mann mit Vollbart wundert sich über das Interesse an seinem Geschäft, seit über zehn Jahren übt er den wohl berlinerischsten aller Berufe aus: Er ist Spätkaufbesitzer, 2015 hat er die Berliner Kioskvereinigung "Späti e.V." gegründet. Auf die Frage, warum die Menschen bei ihm ins Netz gehen, grinst er. "Hier kannst du einfach du selbst sein", erklärt er, während er türkischen Stammgästen schwarzen Tee zubereitet. "Anonymität ist Menschen wichtig. Manche kommunizieren hier zum Beispiel mit ihren Affären, andere bestellen Dinge, von denen ihre Mitbewohner nichts mitbekommen sollen." An ihren eigenen Geräten fühlen sich viele Menschen wohl mittlerweile im Netz beobachtet. Zu seinen Stammkunden zählen aber auch Gruppen, die zum Computerspielen an die vernetzten Rechner kommen, sagt Kilic: "Counterstrike, wie vor 15 Jahren", sagt er über das wohl berühmteste Ballerspiel, das man vernetzt im Team spielen kann.

Kilics Erfahrung deckt sich mit Olatunjis Dilemma: fast alle Kunden hätten zwar per Smartphone Internetzugang, aber vielen fehle ein Laptop. Deutsche Kunden besuchten seinen Kiosk vor allem, um Formulare und Tickets auszudrucken. "Die Palette ist bunt. Es kommen Schulkinder, die für ihre Hausaufgaben Computer benötigen, Touristen, und Geflüchtete, die mit Familienmitgliedern und Freunden in ihrer Heimat kommunizieren."

So wie Zoran Barzani. Er sitzt an Rechner neun, auf seinem Bildschirm laufen Youtube-Videos von tanzenden Männern in braunen Gewändern, im Hintergrund karge Wüste. "Ich bin Kurde aus dem Irak", sagt Barzani in gebrochenem Deutsch. Seit einem Jahr wohne er in Nürnberg, sei aber oft in Berlin bei Freunden. Im Irak sei er Peschmerga-Kämpfer gewesen. Er zeigt ein Foto von sich in Camouflage-Kampfmontur, mit Patronengürteln behangen, ein rotes Barett auf dem Kopf. Er trinkt einen Schluck Bier aus seiner Flasche Augustiner und blickt etwas wehmütig. In Internetcafés komme er oft, um die Zeit tot zu schlagen, mit Bekannten zu kommunizieren, und irgendwie näher an die Heimat zu kommen. "Ist ja billig", sagt er zu den 80 Cent pro Stunde, die Kilic verlangt.

An Rechner Nummer sieben wird es laut. Gladis Olatunji telefoniert per Whatsapp mit ihrem Bruder, auf Edo, einer nigerianischen Stammessprache. Ihre Gesichtszüge sind schmerzverzogen, Stoßgebete verlassen ihre Lippen. Ihr 17 Monate alter Sohn Joel schreit mit Inbrunst aus dem Kinderwagen. Jetzt beginnen sich auch die Gäste mit den Kopfhörern auf den Ohren umzuschauen. Olatunji hat also ihren Helfer gebeten, das E-Mail-Postfach zu öffnen um das Busticket zu drucken. Das Passwort zum E-Mail-Postfach ihrer Freundin scheint aber falsch zu sein, und nach mehreren Fehlversuchen meldet Yahoo auf dem Schirm: "Aus Sicherheitsgründen wird ihr Konto für zwölf Stunden gesperrt." Das darf nicht sein, Olatunjis Bus nach Verona geht schon in zweieinhalb Stunden. Der Gast stellt seine eigene E-Mail-Adresse zur Verfügung, er habe noch 20 Minuten. In dieser Zeit muss Olatunji irgendwie ihren Bruder dazu bewegen, das Ticket erneut zu versenden, und das scheint problematisch zu sein. Es folgen 20 laute Minuten.

Ähnliche Szenen hat der Kölner Medienwissenschaftler Stefan Udelhofen oft beobachtet. Für seine Doktorarbeit über die "zeitgeschichtliche Entwicklung von öffentlichen Interneteinrichtungen" besucht er regelmäßig Cafés und Kioske, um ihren Wandel und ihre heutige Relevanz einzuordnen. "In den 1990er Jahren wurde das Internetcafé als Erlebnisgastronomie wahrgenommen - das Internet an sich war die Sensation, man kam um zu entdecken. Heute nutzen die meisten Gäste das Angebot sehr zielgerichtet." Auch deshalb seien "genuine Internetcafés" die absolute Ausnahme geworden, oft seien sie Teil eines kleinen Geschäfts.

Internet
:Die Digitalisierung ist der größte Gleichmacher unserer Zeit

Mehr Chancen, bessere Jobs, faire Bezahlung und größere Gesundheit. Die Digitalisierung kann unser Leben und Arbeiten dauerhaft zum Besseren verändern. Doch dafür müssen wir die Veränderung annehmen.

Von Guido Bohsem

50 bis 80 Cent pro Stunde - ein demokratisches Angebot

Udelhofen musste bei seinen Recherchen feststellen, dass das durchschnittliche Internetcafé nicht immer einladend ist, mitunter sei es sogar dreckig. Seiner Stimme ist dennoch die Begeisterung des Akademikers anzumerken: "Die Cafés sind sehr günstig und zentral gelegen, die Schwelle der Zugänglichkeit ist sehr niedrig." Er spricht von einem demokratischen Angebot, 50 bis 80 Cent koste die Online-Stunde üblicherweise. Als Alternative zum Café gebe es sonst nur öffentliche Bibliotheken, und dort "wird die Spaltung der Gesellschaft bei der Ausweisvergabe deutlich". Für die Beantragung brauche man eine Meldebestätigung und ausreichendes Verständnis von Bürokratendeutsch - niedrige Hürden, die Obdachlose oder Ausländer schon ausgrenzen können.

88 Prozent der deutschen Haushalte haben Internetzugang, der Großteil der verbleibenden zwölf Prozent wird von über 65-Jährigen bewohnt, die zumindest aus beruflichen Gründen das digitale Netz nicht nötig haben. Bleiben ein paar Prozent internetlose Bürger. Wo finden sie Jobangebote? Wie machen sie Behördentermine? Die Antwort lautet: In Kiosken wie dem von Kilic.

"In Deutschland ist das Internet noch nicht komplett alternativlos", sagt Stephan Humer, Informatiker und Soziologe mit Schwerpunkt Internet an der Berliner Universität der Künste. "Hier kann man viele Dinge noch auf dem Telefon- und Postweg erledigen. In Japan und Südkorea etwa ist die Kommunikation mit Firmen und Behörden schon viel stärker digitalisiert." Ohne Computer mit Internetzugang sei man dort noch viel stärker von der Gesellschaft abgehängt als hier.

Humer sieht das Internetcafé als "Gradmesser für den Umgang mit der Digitalisierung". Allein, dass in deutschen Städten Internetcafés überleben könnten, zeuge von einer digitalen Mehrklassengesellschaft. Dies sei aber nur ein besonders deutliches Beispiel: Zwischen Programmierer, Excel-Nutzer und Whatsapp-Schreiber lägen viele Nuancen digitalen Könnens.

Zigaretten und Snacks machen das Surfen angenehmer

Mehrere der im Rahmen der Recherche angesprochenen Betreiber wollen zusätzliche Rechnerplätze anbieten. Auch Bülent Kilic hat im Oktober sechs neue Computer aufgestellt. Rechnet sich das, bei 80 Cent pro Stunde? "Es ist unterschiedlich. Für manche Kioskbesitzer ist es ein Lockangebot, ähnlich wie beim Lotto: Man verdient kaum, hofft aber auf zusätzliche Einkäufe der Kunden." Zigaretten, Getränke, Snacks - alles, was das Surfen angenehmer macht. Andere Kioske, sagt Kilic, betreiben über 30 Computer und seien damit allein schon profitabel. Und manche behaupten zumindest, gar nicht darüber nachzudenken, ob es sich für sie lohne.

Gladis Olatunji wedelt mit ein paar Blättern in der Hand, als sie mit erleichtertem Gesichtsausdruck vom Drucker zurückkommt, das Drama hat ein Ende: Nach fast einstündigem Hin- und Her hat sie das Ticket bekommen und kann nun nach Italien aufbrechen. Dorthin, wo sie einmal gewohnt hat, bevor sie ihre Arbeit verlor und vor zwei Jahren nach Deutschland zog. Viel besser sei es hier auch nicht, sie finde keinen Job, die Sprache mache Probleme. Sie sagt: "Aber heute habe ich verstanden, dass ich mir eine E-Mail-Adresse zulegen sollte."

© SZ vom 28.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Deutscher Juristentag
:Facebook ist gratis - aber nicht kostenlos

Im Internet zahlen Nutzer oft nicht in Euro, sondern mit Daten. Juristen überlegen jetzt, solche Dienste als "entgeltlich" einzustufen - das hätte weitreichende Konsequenzen.

Von Wolfgang Janisch

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: