Demokratie im Netz:So ein Schwarm kann sehr dumm sein

Das Netz gilt als Befreiungstechnologie, stellt aber auch unser Rechtssystem in Frage. Die dort lautesten Stimmen gehören oft nur einer überschätzten Minderheit, die vermeintliche Schwarmintelligenz erweist sich häufig als Schwarmdummheit. Politologen suchen nach Antworten auf die Frage: Wie verhält sich das Internet zur Demokratie?

Alexandra Borchardt

Vor kurzem schockierte eine fünfzehnjährige Kanadierin die Welt, als sie mit einem Film auf Youtube ihren Selbstmord ankündigte, den sie später vollzog. Cybermobbing, also massenhafte Verunglimpfung im Netz, hatte sie in den Tod getrieben. Wer dazu wie viel beigetragen hatte, wird sich kaum ermitteln lassen. Das sei nur ein Einzelfall, könnte man sagen und liegt damit nicht vollkommen falsch. Und doch bedrohen Anonymität und Atomisierung in der digitalen Welt nicht nur die Menschenwürde, sondern lassen die Verantwortung eines jeden Einzelnen dafür, die Würde seiner Mitmenschen zu respektieren, unter neuen Voraussetzungen erscheinen.

"Gelten Menschen- und Bürgerrechte im Internet?", fragte Nordrhein-Westfalens ehemaliger Ministerpräsident Jürgen Rüttgers am Wochenende auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft an der Universität Hildesheim. Sie hatte sich das Internet als "Bereicherung oder Stressfaktor für die Demokratie?" zum Thema gemacht.

Wer das Netz als Befreiungstechnologie betrachtet, wird bezweifeln, dass es überhaupt eine solche Frage gibt. Eröffnen die digitalen Wege nicht unzählige Möglichkeiten, die Bürgerrechte zu viel geringeren Kosten auszuüben als je zuvor? Ist das Netz nicht gerade ein Ich-Medium, das die Stimme des Einzelnen stärkt, ihn seine Meinung in die Welt blasen lässt, wann immer er will, seine Gedanken und Bilder verbreitet, ihn mit etwas Glück ohne Manager zur Prominenz verhilft, und sei es als Depp in einem tausendfach geklickten Video? Ein unzufriedener Kunde kann über eine Twitter-Botschaft einen "shitstorm" auslösen, der Top-Manager in Konzernen tagelang beschäftigt. Das ist das Einerseits.

Schwarmdummheit statt Schwarmintelligenz

Das Andererseits aber wiegt schwer. Denn das Internet befreit die darin Handelnden von den Konsequenzen ihres eigenen Tuns, wenn sie in der Masse untergehen oder Ursache und Wirkung wegen Tausender dazwischen liegender Klicks nicht mehr zusammenhängen. Gerade hat ein BGH-Urteil Eltern weitgehend von der Haftung befreit, wenn ihre Kinder ohne Wissen der Eltern illegal Daten herunterladen. Und wer zahlt für die Folgen versehentlich einberufener Facebook-Partys? Wer erstattet den Schaden, wenn Unternehmen Opfer einer unberechtigten (vielleicht vom Konkurrenten lancierten?) Kampagne werden? Wer therapiert den Menschen, der - wie in Emden geschehen - in falschen Mordverdacht gerät?

Im Netz regiert der Schwarm, und mit ihm nicht nur Schwarmintelligenz, sondern auch "Schwarmdummheit und Schwarmfeigheit", wie es der Politologe Karl-Rudolf Korte von der Universität Duisburg-Essen auf der Tagung formulierte. Die Folgen ausbaden müssen andere. Das Netz stellt damit das Rechtssystem infrage, das auf dem Konzept des bewusst handelnden Individuums basiert.

So wie der Einzelne in der digitalen Welt in vielen Fällen nicht haftet, so profitiert er aber auch nicht mehr. Die Gegner des Urheberrechts zum Beispiel erkennen ihn nicht mehr als Schöpfer von Ideen an. Der Jurist Michael Hassemer (TU Kaiserslautern) sieht darin einen Paradigmenwechsel. Der Beginn der säkularen Gesellschaft sei dadurch markiert gewesen, dass der einzelne Bürger Schöpfer eines Werkes sein konnte, was zuvor nur Gott vorbehalten war. Nun werde ihm diese Souveränität abgesprochen. "Die Krise des Urheberrechts ist eine Krise des Subjekts", sagte Hassemer in Hildesheim.

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