Datenspeicherung:450 Millionen Menschen im Fadenkreuz

Am Mittwoch entscheidet das EU-Parlament über eine Richtlinie, an der sich die Gemüter erhitzen: Schließlich muss sich dann jeder der 450 Millionen Bürger Europas im Sinne der neuen Vorschrift als potenzieller Straftäter oder Terrorist begreifen.

Stefan Krempl

Die Anbieter von Telekommunikation - von Handygesprächen, E-Mail und Internet - werden in der Richtlinie verpflichtet, die elektronischen Spuren ihrer Kunden monatelang aufzuheben und Sicherheitsbehörden zur Aufklärung von Straftaten zur Verfügung zu stellen. Eine Verabschiedung gilt als sicher, denn die Spitzen von Christ- und Sozialdemokraten, die im Abgeordnetenhaus zusammen über eine Mehrheit verfügen, haben die Pläne bereits abgesegnet.

Sie stützen damit den Beschluss des Ministerrats von Anfang Dezember, den die deutsche Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) damals begrüßt hatte: Die Richtlinie komme den "deutschen Interessen weit entgegen". Daten- und Verbraucherschützer, Branchenverbände, Verleger und Bürgerrechtsorganisationen warnen jedoch vor dem Abdriften in den Überwachungsstaat, tiefen Einschnitten in die Grundrechte sowie einem Preisanstieg bei der Telekommunikation.

Den Plänen zufolge müssen Netzbetreiber in Zukunft die Verbindungs- und Standortdaten, die bei Telefonaten, SMS, E-Mail, dem Surfen oder Filesharing anfallen, mindestens sechs Monate speichern - aber nicht den Inhalt. Einzelne Länder können diese Pflicht auch auf 24 Monate oder mehr ausweiten.

Datenspeicherung in allen 25 Mitgliedsstaaten

Ob die Firmen für den Aufwand vom Staat entschädigt werden, liegt ebenfalls im Ermessen der einzelnen EU-Mitglieder. In Deutschland, kündigte Zypries an, sollten die Firmen die Daten sechs Monate speichern, ohne dafür entschädigt zu werden. Bisher gibt es hier zu Lande keine gesetzliche Regelung, die meisten Firmen löschen die Daten daher nach Bezahlen der Rechnung - meist nach drei Monaten.

In der EU-Kommission aber kursiert nun ein Papier, wonach die Regeln für die Speicherung deutlich verschärft werden könnten. Justizkommissar Franco Frattini zeigt sich in einem internen Schreiben an seine Kommissionskollegen, das der SZ vorliegt, sichtlich erleichtert über die erzielte Einigung. Sie stelle sicher, schreibt er zunächst, dass alle 25 Mitgliedsstaaten die Vorratsdatenspeicherung einführen. Dies ist laut Frattini "ein wichtiger Schritt vorwärts im Blick auf die Bekämpfung schwerer Verbrechen und des Terrorismus".

Doch dann verweist der Justizkommissar auf Ungereimtheiten der Richtlinie. Nach dem Text, den die Minister verabschiedet haben und der jetzt dem Parlament vorliegt, wird der Zugriff der Sicherheitsbehörden auf den ersten Blick auf "schwere Straftaten" beschränkt.

Die Mitgliedsstaaten haben sich aber eine Hintertür zur Erweiterung der Klausel offen gelassen. Über die Anwendung eines freizügigen Artikels in der Richtlinie "über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation" von 2002 sei das Schürfen in den Datenbergen auch bei "anderen Verbrechensformen nicht ausgeschlossen", schreibt Frattini.

Zudem kann offenbar mehr gespeichert werden, als es zunächst den Anschein hat. Zwar enthält der Richtlinien-Entwurf eine Liste von Datentypen, die gespeichert werden sollen. Doch Frattini schreibt dazu: "Die Ansicht des Rates ist es, dass die Mitgliedsstaaten auch andere Datenkategorien unter der Richtlinie von 2002 vorhalten dürfen." Das zielt insbesondere auf die Speicherung erfolgloser Anrufversuche.

Die Minister hatten bei ihrer Einigung eine umstrittene Passage gestrichen, die ursprünglich auch das Speichern solcher Versuche vorsah. Jetzt ist das auf Fälle beschränkt, wo Unternehmen diese Daten, etwa in Großbritannien, ohnehin erfassen. In vielen EU-Ländern werden sich die Anbieter daher womöglich auf deutlich über die Richtlinie hinausgehende Verpflichtungen zum Sammeln von Daten einstellen müssen.

Streit um die Auswirkungen der Richtlinie ist daher an vielen Punkten programmiert. Am heftigsten könnte er bei der Kostenfrage ausbrechen. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat es für Deutschland bereits kategorisch ausgeschlossen, die Unternehmen für die Speicherung zu entschädigen. Er sieht das als "staatsbürgerliche Pflicht" der Wirtschaft an. Branchenverbände wie Bitkom hingegen betrachten die Gewährleistung der inneren Sicherheit als "ureigene Aufgabe des Staates". Sie drohen mit einer Verfassungsklage, falls ihre Mitgliedsfirmen verpflichtet werden, geschätzte 150 Millionen Euro allein in die Aufrüstung ihrer Technik für die Datenerfassung zu investieren.

Täglich 639.000 CDs

Besonders hart träfe die Einführung die Internetanbieter. Sie rechnen allein für den Frankfurter Netzknoten DeCIX vor, dass sie täglich eine Datenmenge von 639.000 CDs abspeichern und für den Staat bereithalten müssten. Wer darauf zugreifen wolle, "wird an den Daten ersticken", sagt Michael Rotert, Vorstandsvorsitzender des Vereins der deutschen Internetwirtschaft eco. Die Behörden wären nicht in der Lage, die kaum vorstellbaren Mengen an gewünschten Rohinformationen tatsächlich für die Verbrechensbekämpfung zu nutzen.

Auch zahlreiche andere Organisationen laufen Sturm. "Wenn über Monate hinweg minutiös nachvollzogen werden kann, wer wo im Internet gesurft hat, wer wann mit wem per Telefon, Handy oder E-Mail kommuniziert hat, dann wird die Schwelle von der freiheitlichen Informationsgesellschaft zum digitalen Überwachungsstaat überschritten", empört sich Thilo Weichert, Landesdatenschutzbeauftragter in Schleswig-Holstein. Der Vorsitzende der Konferenz der Datenschutzbeauftragten in Bund und Ländern wirft den Ministern eine "grundrechtliche Verrohung" vor.

"Die flächendeckende Vorratsdatenspeicherung träfe auch die Pressefreiheit in einem ihrer sensibelsten Punkte", warnt Wolfgang Fürstner, Geschäftsführer des Verbands Deutscher Zeitschriftenverleger. Sie untergrabe den Informantenschutz, was zu einem Versiegen von Quellen führe. Letztlich werde die Demokratie geschwächt, da diese gerade in schwierigen Zeiten auf die Pressefreiheit angewiesen sei.

Scharfe Kritik kommt auch von EU-Abgeordneten, die ihr Haus düpiert sehen. Denn der Innenausschuss des Straßburger Parlaments hatte sich für eine Richtlinie mit weniger strengen Vorgaben bei der Speicherdauer, den Datentypen und der Kostenerstattung ausgesprochen: Jetzt aber soll stattdessen über das Ministerpapier abgestimmt werden.

"Dass ein Ausschussvotum komplett ignoriert werden soll, hat es wohl noch nie gegeben", empört sich der parlamentarische Berichterstatter Alexander Alvaro. Sollte es nach dem Willen der großen Fraktionen laufen, wäre "das Parlament missbraucht worden, um eine Maßnahme zu beschließen, die in den Mitgliedsstaaten so nicht durchzubringen gewesen wäre". Der FDP-Politiker warnt vor einem Präzedenzfall: "Wir werden zum Steigbügelhalter des Rates."

Trotz solcher Bedenken erwartet der Münchner EU-Abgeordnete Wolfgang Kreissl-Dörfler (SPD) "eine klare Mehrheit" für den vorliegenden Text. Er begründet das mit einem kleineren Übel: Hätten die beiden großen Fraktionen, also Christ- und Sozialdemokraten, nicht den Schritt auf den Rat zu gemacht, hätten die Mitgliedsstaaten eventuell ein noch schärferes Papier verabschiedet.

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