Datenbrillen:Werkzeug des Bösen

Google-Glass

Eine junger Mann trägt Google Glass

(Foto: dpa)

Datenbrillen fordern gesellschaftliche Konventionen heraus und wecken das Interesse von Detektiven. Dass sie zumeist von sozial mittelbegabten, mittelalten weißen Männern getragen werden, macht es nicht einfacher.

Von Dirk von Gehlen

Der Meisterdetektiv ist verwirrt. Er dreht die randlose Brille, die gerade noch im Gesicht des Königs der Erpresser saß, suchend in seiner Hand. Eine Kamera? Ein Stromanschluss? Sherlock Holmes findet nichts. Dieses randlose Gestell ist kein modernes Technikgerät mit Speicherplatz und Internetverbindung, sondern eine gewöhnliche Brille. Ihr Besitzer, der Medienmogul Charles Augustus Magnussen, lacht wissend und nimmt die Sehhilfe zurück.

Eine knappe Stunde lang weht durch die jüngste Folge der britischen TV-Serie "Sherlock" die Ahnung, die Brille des gerüchtestreuenden Antagonisten sei eine aktualisierte Fassung der 2012 von Google vorgestellten Brille - ein Werkzeug des Bösen.

Ständige Ahnung der Aufnahme

Die "Google Glass" genannte Brille verfügt - wie andere auf "Augmented Reality" basierende Sehhilfen - über all die Fähigkeiten, die dem tragbaren Telefon den Zusatz "smart" im Namen einbrachten: Sie kommuniziert, speichert, filmt und sendet - auf Zuruf. Wie eine zweite Ebene schiebt sich die Brille so zwischen den Träger und seine Umwelt. Die "Sherlock"-Macher nutzen dies als Mittel der Dramaturgie. Im Alltag hingegen wird diese zweite Ebene eher zum Problem: Wer mit Glass ein Foto seines Gegenübers machen will, kann diesen ohne Handbewegung und nahezu unmerklich knipsen. Die ständige Ahnung der Aufnahme und Speicherung wird so in Gegenwart von Glass-Trägern zur größten Herausforderung.

Dass sie bisher zumeist von sozial mittelbegabten, mittelalten weißen Männern getragen wird, macht es nicht einfacher. Die Frage, in welchem sozialen Umfeld es erlaubt ist öffentlich zu telefonieren, erscheint dagegen wie eine Etikettenfrage aus der Kaiserzeit. Was tun, wenn ein Glass-Träger auf dem Spielplatz auftaucht? Am Strand? In der Umkleidekabine im Schwimmbad? Oder im Kino?

Das Kino-Szenario ist weniger ein Problem für die Umsitzenden (anders als zum Beispiel ein klingelndes Telefon) als für Filmfirmen. Diese Vermutung liegt jedenfalls nahe, seit eine Glass-Begebenheit aus Columbus, Ohio durchs Internet gereicht wird. Mitte Januar wurde dort ein Brillenträger unsanft und mit Staatsgewalt aus einem laufenden Film geholt und danach zwei Stunden lang befragt. Der Verdacht der amerikanischen Detektive: Der Kinobesucher habe sich den Inhalt des Films "Jack Ryan: Shadow Recruit" ein bisschen zu gut gemerkt - digital und mit Hilfe der Brille.

Eine Aufzeichnung stellt (bisher) eine Urheberrechtsverletzung dar, und um diese zu vermeiden, beschäftigt die Filmindustrie private Ermittler, die in diesem Fall von Beamten der Homeland Security unterstützt wurden. Ob das verhältnismäßig ist, lässt sich schwerer beantworten als die Frage, ob man denn ein solches Aufzeichnungsgerät überhaupt mit ins Kino nehmen soll: Der 35-jährige Glass-Besitzer nutzt das Gerät auf eine Art, die ältere Menschen mit dem Begriff Brille verbinden - als Sehhilfe mit geschliffenen Gläsern.

Ahnung der Allwissenheit

Die amerikanischen Detektive waren am Ende ebenso enttäuscht wie der britische Meisterdetektiv in der Serie. Sie fanden nicht, was sie suchten. Auf der Google-Brille war keine Aufzeichnung. Sie ließen den Kino-Besucher wieder gehen.

Glass als gesellschaftliche Realität ist - diese Geschichten beweisen es - nun da angekommen, wo Menschen Brillen tragen: überall. Dadurch ergeben sich Fragen der Angemessenheit, aber vor allem Verschiebungen in Bezug auf Wissen und Erinnerung. Eine Glass-gefilmte Begebenheit kann sich jeder sehr gut merken, nicht nur der Meisterdetektiv, dessen besondere Begabung in der britischen TV-Adaption durch seine computerartige Auffassungsgabe dargestellt wird. Sherlock scannt - ganz ohne Brille - seine Umgebung wie es ein Glass-Träger tun würde, er nimmt Dinge auf, die dem gewöhnlich begabten menschlichen Auge verborgen bleiben, und wertet sie blitzschnell aus.

Doppelte Ironie

Es liegt deshalb eine doppelte Ironie darin, dass in der Episode "His Last Vow" Watson und Holmes gar nicht wirklich gegen die Speicherkraft einer Datenbrille, sondern gegen die Merkfähigkeit des Medienmoguls Magnussen kämpfen. Dieser bewahrt im Landsitz Appledore eine "Bibliothek von Alexandria an Skandalen und Gerüchten" auf, wie es in der Serie heißt. Diese nutzt er, um Menschen mit Informationen unter Druck zu setzen, die diese lieber nicht veröffentlicht wissen wollen.

Sie nehmen an, dass in dem hochgeschützten Appledore die Originaldokumente liegen und beugen sich den Erpressungen des Königs der Erpresser. Dieser Titel stammt aus der Originalgeschichte aus dem Jahr 1904, in der Sherlock-Holmes-Erfinder Arthur Conan Doyle die Figur einführt.

In der modernen Adaption wird dieser - nicht nur durch die Brillenanspielung - zum Symbol für die allumfassende Speicherkraft der digitalen Supermächte. Sherlock fasst seinen Gegenspieler nicht mehr als spielerische Herausforderung für seinen Geist auf, er hasst ihn tatsächlich - und löst den Fall, soviel sei verraten, auf eine nicht gerade feingeistige Art und Weise.

Der Kampf in der TV-Serie gilt nicht wirklich der Datenbrille und den allwissenden Servern von Google. Es ist vielmehr die Ahnung der Allwissenheit, die die popkulturelle Beschreibung der Glass-Wirklichkeit so bedrohlich und gleichzeitig realistisch macht. Es ist die stete Befürchtung, die sich der Medienmogul zunutze macht, um Menschen zu erpressen und zu unterdrücken. Genau diese ständige Angst ist bekanntlich das effektivste Mittel von Überwachungsregimen, nicht die Technik selbst. Diese ist in dem Fall eher das Symbol für zahlreiche Fragen, auf die nicht mal der Meisterdetektiv aus dem 20. Jahrhundert eine Antwort weiß. Dem Zuschauer stellten sie sich aber dringender denn je.

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