Süddeutsche Zeitung

Computerspiel "Cyberpunk 2077":Diese Zukunft ist von gestern

Raketenwerfer-Arme und Neon-Werbung: Ausgerechnet das Subgenre Cyberpunk aus den frühen Achtzigern soll uns die Zukunft zeigen. Her mit den frischen Dystopien!

Von Jannis Brühl

Ein Glitch ist ein Fehler in einem Software-Programm, eine Erinnerung daran, dass Maschinen nicht perfekt sind. Wenn in einem Computerspiel statt flüssiger Bilder grobe Pixel sichtbar werden, animierte Figuren plötzlich Kommandos ihrer Meister vor dem Bildschirm verweigern und nur noch zucken, statt zu kämpfen, bricht die Simulation in sich zusammen.

Der Glitch ist auch eine zentrale Metapher des Cyberpunk. "Matrix" hieß der Film, der die Klassiker dieses Science-Fiction-Subgenres für den Mainstream zusammenführte. Keanu Reeves' Charakter Neo sieht in "Matrix" zweimal kurz hintereinander dieselbe schwarze Katze an sich vorbeilaufen. Seine Freundin Trinity (Carrie-Ann Moss) klärt ihn auf: "Déjà-vus sind oft Fehler in der Matrix. Das kann passieren, wenn sie etwas ändern." Sie, das sind die Maschinen, die sich in die Hirne der Menschen eingeklinkt haben und ihren Geist durch die simulierte Realität rennen lassen wie durch ein Computerspiel.

Es passt also, dass "Cyberpunk 2077", jenes sehr lange und sehr groß angekündigte Spiel, nun wegen seiner vielen Glitchs aus Sonys digitalem Laden geworfen wurde. Das ist wegen der mit viel Werbung geschürten Erwartungen erst einmal ein Desaster für das Unternehmen CD Projekt, das das Spiel entwickelt hat - wenn man bei 13 Millionen verkauften Spielen in zwei Wochen von einem Desaster reden kann. "Cyberpunk 2077" wird nämlich trotzdem eines der erfolgreichsten Spiele der Geschichte sein. Und eine Bankrotterklärung für die Fähigkeit der Unterhaltungsindustrie, die Zukunft neu zu erfinden.

Denn es sind nicht die Grafikfehler, die das Gefühl auslösen, das alles schon einmal gesehen zu haben. Es sind die leuchtenden Armprothesen, aus denen die Figuren schießen, oder die Kabel, über die Erlebnisse in fremde Gehirne hochgeladen werden, und ähnliche Motive: überall Hochtechnologie im Prä-Apple-Design, die nie neu ist, sondern immer schon abgefuckt.

Cyberpunk ist eine "lost future", und zwar eine besonders langlebige

Die Zukunftsvision, die im Jahr 2020 Millionen Menschen kaufen, ist fast 40 Jahre alt. Die beiden Klassiker des Subgenres, der Film "Blade Runner" und der Roman "Neuromancer", erschienen 1982 und 1984. Die Idee zum "Cyberpunk"-Spiel selbst entstand damals, ursprünglich war es ein Pen&Paper-Rollenspiel und gehörte damit zu einer der letzten vordigitalen Nerd-Kulturen. Im nun erschienenen Computerspiel wird das Recycling durch den Schauspieler Keanu Reeves personifiziert, der einer Figur des Spiels zur Verkaufsförderung Körper und Stimme geliehen hat. Er spielt nicht nur in "Matrix" mit, sondern auch in "Johnny Mnemonic", einer weiteren Verfilmung einer Cyberpunk-Geschichte aus den Achtzigern. Die Gaming-Webseite Polygon kommentierte nun in ihrer Rezension von "Cyberpunk 2077": "Ein Spiel, das besessen von der Vergangenheit ist."

Wurde seit den frühen Achtzigern keine neuere Vorstellung erdacht von dem, was kommen könnte? Als wären den Entwicklern damals die Zukunftsentwürfe abhandengekommen, ruckelt Cyberpunk auch auf den neuesten Konsolen als die Mainstream-Dystopie vor sich hin. Während die "Climate Fiction" der vergangenen Jahre das Problem der Klimakatastrophe in die Zukunft fortspinnt, verkaufen die Macher von "Cyberpunk 2077" nur die Nostalgie nach einer Vision aus der Nachkriegszeit. "Lost futures" - verlorene Zukünfte - nannte der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher diese beerdigten Träume, die immer wieder an die Oberfläche drängen. Cyberpunk ist so eine lost future, und zwar eine besonders langlebige.

Für den 2017 gestorbenen Fisher war das ein existenzielles politisches Thema: Seit den Reagan-Thatcher-Jahren - die mit der Erfindung des Cyberpunk-Genres zusammenfallen - durchdringe der Kapitalismus auch die Träume der Menschen. Dort lösche er die Vorstellung aus, es könnte etwas anderes geben als die Gegenwart. Die Kreativität, mit der sich eine Zukunft ausmalen ließe, wird unterdessen im Rahmen von "New Work" in die Arbeitswelt abgesaugt, dort braucht man sie schließlich zur "Produktinnovation". Fisher fand seine Beispiele vor allem in der Popmusik: "Als futuristisch gilt uns immer noch etwa die Art der Musik von Kraftwerk", schrieb er 2014. Ein "Zukunftsschock" - das Gefühl, eine neue Zeit als möglich zu erfahren - sei im 21. Jahrhundert nicht mehr möglich.

Technik, die mit dem Menschen verschmilzt - das ist mit dem Smartphone quasi eingetreten

Die Macher von "Cyberpunk 2077" nicken nun zwar aktuellen gesellschaftlichen Debatten kurz zu. Für seine Figur kann der Spieler zum Beispiel Stimmen und Geschlechtsteile beliebig kombinieren und so Trans-Charaktere schaffen. Dennoch schreit das Spiel weniger "Ich bin die Zukunft!" als "Ich bin die Achtziger!". Werbung in Neonfarben ist allgegenwärtig (offensichtlich machte Neonlicht Menschen damals Angst), der düstere, von Tokio inspirierte Schauplatz ist das Produkt amerikanischer Paranoia, nach der zweiten Ölkrise von Japans Wirtschaftsmacht überrollt zu werden. Und natürlich gibt es fliegende Autos.

Auch der Fokus auf Hardware wirkt angestaubt. 2020 passieren die größten Umwälzungen unsichtbar im Programmcode. Diese Entwicklung beschrieb Browser-Pionier Marc Andreessen mit dem Satz "Software frisst die Welt auf". Cyberpunk war dagegen besessen von Prothesen, implantierten Chips und "Nervenverstärkern": Diese Zukunftsvision von Technik, die mit dem Mensch verschmilzt, ist mit Blick auf unsere Smartphones zwar im übertragen Sinne eingetreten. In der Realität aber beschränken sich selbst Elon Musks Versuche, Computer und Hirne zusammenzuschließen, bislang auf Implantate, die unmotiviert in den Köpfen von Schweinen vor sich hin fiepen.

Weihnachten 2020 heißt auch: Millionen Menschen schwelgen an ihren Maschinen in einem aus Roboterarmen und Gehirn-Chips zusammengeschraubten Neon-Traum aus den Achtzigern. Es wird wirklich Zeit für ein paar frische Dystopien.

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