Corona, die Digitalisierung und der neue Klassenkampf:Ortlos unterkuschelt

Corona Lockdown

Eine Gesellschaft, in der man sich permanent aus dem Weg geht: Ausgangssperre in Nizza.

(Foto: Arià Botbol via www.imago-images.de/imago images/Hans Lucas)

Die Corona-Krise zeigt, wie digital wir inzwischen leben können, wenn wir müssen - und wie viel uns dann fehlt. Das verweist aber vor allem auf ein großes unterschätztes Problem, das nur noch deutlicher werden wird, wenn alle geimpft sind.

Von Adrian Lobe

Im Jahr 1996 veröffentlichte der Schriftsteller William Knoke ein Buch mit dem Titel "Placeless Society". Darin entwirft der Autor die Vision einer Gesellschaft, in der Orte keine Rolle mehr spielen. Moderne Kommunikationstechnologien wie das Internet würden die Welt zu einem elektronischen Dorf machen, in dem es völlig egal ist, ob man in Mumbai oder München sitzt.

"Stellen Sie sich vor, an zwei oder drei Orten gleichzeitig zu sein", schreibt Knoke. "Oder führen Sie sich die Fähigkeit vor Augen, Sie könnten Gegenstände so unmittelbar und mühelos durch die ganze Welt bewegen, als wären Sie Aladdins Geist aus der Lampe. So sieht eine Welt aus, in der es keinen Ort gibt. Die ortlose Gesellschaft umschreibt eine Welt, in der alles und jeder gleichzeitig ist." Ein Versicherungsvertreter, so Knokes Vision, könne von zu Hause aus arbeiten und "telependeln"; eine Computerfirma ihre Software in einer Kleinstadt in Utah schreiben; Hyperschallflugzeuge Raum und Zeit relativieren.

Wenn man diese Zeilen mit dem Abstand von einem Vierteljahrhundert liest, staunt man, wie visionär sie sind. Man kann wirklich heute von jedem Ort der Welt, an dem es eine funktionierende Internetverbindung gibt, sich in seine - durchaus auch heimatstiftenden - Kommunikationsräume einloggen. Man kann im Outback von Australien einen Videoanruf nach Hause starten, dessen Tonqualität zuweilen besser ist als bei einem Ortsgespräch. Das Smartphone, dessen Home-Button nicht umsonst so heißt, ist zu einer Ersatzheimat geworden, die man mit Tagebüchern, Ordnern, Musik und Büchern zu einer mobilen Wohnung macht.

Die Corona-Pandemie hat diesen Trend verstärkt: Graduiertenfeiern, Hochzeiten, Konzerte, Proteste - was sonst auf Straßen, Schulhöfen oder öffentlichen Plätzen stattfand, verlagerte sich ins Netz. Im Lockdown sind wir alle Somewheres, wie der britische Journalist David Goodhart die ortsgebundenen Menschen beschrieben hat (im Gegensatz zu den flexiblen Anywheres, die überall zu Hause sind).

Warum noch irgendwohin fliegen, wenn es virtuelle Realität gibt?

Mit Techniken wie virtueller Realität ist es möglich, ganze Landschaften und Szenerien in eine Datenbrille zu packen, mit der immersive Erfahrungen möglich sind. Man hat das Gefühl, mit seinem Körper am Ort des Geschehens zu sein. Warum noch irgendwohin fliegen, wenn es virtuelle Realität gibt?

Als im 19. Jahrhundert das Telefon erfunden wurde, gab es Befürchtungen, dass sich die Opernhäuser und Kirchen leeren könnten, wenn das Telefon Musik in alle Häuser transportiert. "Kein Mensch, der in seiner eigenen Stube mit seinem Telefon an der Seite sitzen und so der Vorführung einer Oper an der Academy lauschen kann, wird sich die Mühe machen, in die 14th Street zu gehen und den Abend in einem schwülheißen und überfüllten Gebäude verbringen", orakelte die New York Times am 22. März 1876 in einem Leitartikel. "Genauso werden viele Leute es vorziehen, Vorlesungen und Predigten im Komfort und Privaten ihrer eigenen vier Wände anzuhören, statt in die Kirche oder in den Hörsaal zu gehen."

Wie aktuell das klingt! Wer nimmt noch das Infektionsrisiko in einer Kirche in Kauf, wenn er den Gottesdienst im Livestream schauen kann? Wer will in einem schlecht belüfteten Kinosaal sitzen, wenn es Netflix auf dem Sofa gibt?

Schon vor Corona galt die Gesellschaft als unterkuschelt

Nur: Was ist, wenn die 90-jährige Mutter im Heim ihren Sohn nicht bloß via Skype sehen will, sondern leibhaftig? Wenn das Kind keine Lust mehr auf Homeschooling hat, sondern mit seinen Klassenkameraden auf dem Pausenhof spielen will? Kann eine Gesellschaft ohne Orte überhaupt existieren?

Emotionalität, körperliche Nähe, Berührungen - all das lässt sich über Internetleitungen nicht transportieren. Auch Blickkontakt lässt sich in Videokonferenzen nicht herstellen, weil man ja nicht gleichzeitig in den Bildschirm und in die Kamera schauen kann. Unter jeder Videokonferenz liegt ein Grundton der Vergeblichkeit: In dem Moment, wo man sich sieht, stellt man erst richtig fest, dass man sich nicht wirklich sieht.

Es ist das Gefühl, als würde man die Welt durch eine Glasscheibe sehen, als würde man in einer klinisch reinen Konsumwelt leben, wie sie in Jacques Tatis Film "Playtime" aus dem Jahr 1967 dargestellt wird: Auf der Suche nach Monsieur Giffard irrt der Protagonist Hulot durch sterile, labyrinthartige Büroräume, stolpert in Konferenzräume, telefoniert in Kabinen, doch am Ende verpassen sich beide. Es ist eine Gesellschaft, in der man sich permanent aus dem Weg geht.

Dabei braucht der Mensch Körperkontakt. Berührungen reduzieren Stress und stärken das Immunsystem (weshalb Social Distancing der Gesundheit auch abträglich sein kann). Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Kellner in Bars ein höheres Trinkgeld bekommen, wenn sie die Schulter des Kunden berühren.

Schon vor Corona galt die Gesellschaft als "unterkuschelt", identifizierten Psychologen das Problem des "skin hunger". Corona hat das Problem heftig verschärft. Viele sehnen sich nach Berührungen, innigen Umarmungen, einem Händedruck, Kuscheleinheiten.

Die neue Kluft zwischen den Klassen

Die beiden Gesellschaftsbeschreibungen stehen in scharfem Gegensatz zueinander und sind doch - immerhin in der westlichen Welt - auch Teil der erlebten alltäglichen Gegenwart jedes einzelnen menschlichen Schicksals. Niemand lebt bloß digital, und nur sehr, sehr wenige leben mittlerweile nie digital.

Vollkommen trivial ist eine so skizzierte Gegensätzlichkeit des modernen Lebens deshalb allerdings genau nicht. Sie schärft nämlich den Blick auf - trotz allen rasenden digitalen Fortschritts - weiter bestehende geteilte Erfahrungen über Klassengrenzen hinweg. Alles Geld der Welt macht es - wenn man sich an Recht und Gesetz halten will - gerade nicht leichter, mit seinen Freunden und Verwandten zu Hause Zeit zu verbringen.

Anderseits werden neue Probleme überdeutlich. Etwa die Kluft, die entlang der Fähigkeit und der Möglichkeit verläuft, dem Käfig von Wiederholungs- und Bestätigungsschleifen digitaler Filterblasen entfliehen und so etwas wie nicht-digitalen Eskapismus praktizieren zu können. Kommunikationsarbeiter aller Stufen - von der Unternehmensberaterin bis zur Social-Media-Hilfskraft - können sich das zum Beispiel längst nicht mehr erlauben, ohne Gefahr zu laufen, abgehängt zu werden.

Die New York Times erklärte menschlichen Kontakt im vergangenen Jahr zum "Luxusgut" , weil sie die Bildschirme schon wieder aus dem Leben der Reichen verschwinden sieht, während die Armen immer mehr auf Bildschirme starrten. Man muss aber gar nicht so weit gehen, um den "Digital Divide", den digitale Graben durch unsere Gesellschaft, den die neuen Technologien gebracht haben und weiter bringen, zu bemerken. Dieser digitale Graben ist eine der großen und noch immer unterschätzten politischen Herausforderungen, die nach der Pandemie nur noch krasser zu erkennen sein werden.

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