Süddeutsche Zeitung

Computerspiele im Theater:Wie eine Liebesbeziehung

Avatare und Joysticks auf der Bühne: Das Theater adaptiert Erzählformen von Computerspielen und macht Zuschauer zu Spielern. Eine Erkundung.

Von Maja Beckers

Bürokratien sind wie schlechte Spiele. Komplex, undurchschaubar, ständig ändern sich die Regeln. "Sie wollen also auch rüber?", fragt die Beamtin hinter dem Schreibtisch. Das Fähnchen der "Lörischen Republik" weht im Wind des Ventilators. "Ja", sage ich. Sie stellt mir einen Pass aus. Ich komme jetzt aus Pykholm, bin 1963 geboren und konfessionslos. Das Spiel beginnt.

Die Besucher des Forum Freies Theater Düsseldorf (FFT) sind an diesem Abend Flüchtlinge, die in die "Lörische Republik" einreisen wollen. Wir sind keine Zuschauer, sondern Spieler in dieser Mischung aus Theater und Computerspiel der Gruppe machina eX. Das Stück heißt "Right of Passage" und eben dieses Recht, die Grenze zu passieren, müssen wir uns erspielen.

"Ob sie arbeitstauglich sind, wird sich herausstellen." Die Fabrikchefin weist mich barsch an einen Tisch, ich soll Knöpfe an blinkenden Lampen drücken. Neben mir fummelt ein anderer Flüchtling Muttern auf Schrauben. Plötzlich fängt die Chefin an zu pöbeln: die Ausländer, diese Schnorrer, nichts als Scherereien. Ihr Freund mischt sich ein, sie streiten, bis die Frau plötzlich zusammenbricht.

Jetzt sind die Spieler dran, die Schauspieler wiederholen nur noch bestimmte Gesten und Tipps, was zu tun sei. "Wir müssen ihr helfen." - "Wo ist nur das Geheimrezept versteckt?" Die Spieler suchen, mixen und verabreichen der Fabrikchefin den Muntermacher. Das Stück kann weitergehen.

Bretterbuden-Stadt

So wechseln sich szenische Elemente mit spielerischen ab, und wir interagieren mit den Performern in der Kulisse, dem Auffanglager Gohptal an der lörischen Grenze. Eine provisorische Bretterbuden-Stadt mit Soldaten, Arzt, Fabrik, Bar, Kiosk. Alles echt, nichts ist hier virtuell. Wir spielen ganz analog - nur eben in der Art eines Computerspiels. Kenner dieser Spiele haben aber keinen Vorsprung. Im Gegenteil. Viele Aufgaben können nur mithilfe alter Medien gelöst werden, wie Schreibmaschinen, Pauspapier oder einem Wählscheibentelefon, an dem so manch erfahrener Gamer schon ratlos herumfingerte.

In Gohptal muss jeder Flüchtling ein Paket an Dokumenten zusammensammeln und sich laufend entscheiden: Folge ich als Zuschauer den dargebotenen Geschichten, beteilige ich mich an den Gruppen-Rätseln, oder kümmere ich mich um meine Dokumente? Dadurch erlebt jeder einen anderen Abend. Indem es sich an Mechanismen des Computerspiels orientiert, meistert "Right of Passage" die Herausforderung des Interaktionstheaters: die Balance zu finden zwischen Handlungsspielraum und Narration, jenen Punkt, an dem eine vorgegebene Geschichte offen ist für individuellen Input und zugleich bestehen bleibt. Der Game-Theoretiker Michael Mateas nannte es mal den "sweet spot", die "süße Mitte". Daran haben machina eX nun zwei Jahre lang gemeinsam mit dem FFT und Experten für interaktive Dramaturgie geforscht. "Right of Passage" ist gewissermaßen das Endprodukt dieses Entwicklungslabors.

Was machina eX machen, spiegelt einen der großen Trends der freien Theaterszene: die Verbindung von Bühne und Computerspiel. Vor zehn Jahren gingen da noch zuverlässig die Augenbrauen hoch, eine philosophische Arbeit aus dem Jahr 2004 hieß noch mit Gruß an die Skeptiker "Die Schöne und das Biest".

Das ist Vergangenheit. Mit dem Nerd als Hipster sind Computerspiele ästhetisch und sozial zum Leitmedium der Popkultur geworden. Der Markt ist gigantisch, 1,8 Milliarden Euro gaben die Deutschen 2013 für Computerspiele aus, und er ist weiterhin der am schnellsten wachsende Markt der Unterhaltungsindustrie.

Als Kunst sind Computerspiele im New York Museum of Modern Art zu finden, als Serious Games, also Ernste Spiele, erklären sie Konflikte, wie den Syrien-Krieg. Klar, dass sie auch wissenschaftlich untersucht werden, die Games Studies sind mittlerweile auch in Deutschland institutionell etabliert.

Technik aufsaugen

Das Theater, diese Reflexion über Gesellschaft, diese "Medienfressmaschine", wie es der Kritiker Jan Fischer einmal nannte, wird auch diese Technik aufsaugen. Auch, weil sie ein neues ästhetisches Erleben möglich macht, das der Immersion. Ein Quasi-Hineinsaugen, eine vielfach stärkere Identifikation mit dem virtuellen Geschehen. Ein verlockendes Versprechen für die Bühnenkunst. Es ist weniger eine Frage ob, als vielmehr wie Computerspiele das Theater beeinflussen werden.

Bühnen- und Computerspiel haben schließlich einiges gemeinsam. Auch Spiele erzählen Geschichten, deshalb werden sie verfilmt (Tomb Raider) oder erscheinen als Roman (World of Warcraft). Bisweilen erscheinen auch Bücher begleitend zum Spiel, um die Hintergrundgeschichten der Spielhelden ausführlicher erzählen zu können (Battlefield 4). Und der Modus dieser Narration ist ein pur dramatischer. Die Geschichte auf dem Bildschirm entsteht in genau diesem Moment.

In modernen Videospielen sind Spieler wie Schauspieler, die eine Rolle annehmen und diese möglichst kreativ ausfüllen. Dieser Effekt verstärkt sich, wenn Spieler Videoausschnitte ihrer Spiel-Leistungen auf Youtube hochladen und ihren "Auftritt" auf diese Weise einem weltweiten Publikum präsentieren.

Philip Steimel, technischer Leiter von machina eX, ist über Computerspiele zum Theater gekommen. Vom Computer-Rollenspiel zu analogen, sogenannten Pen-and-Paper-Rollenspielen, war es ein kleiner Schritt, und "das war eine sehr theatrale Erfahrung", sagt er. Die hat ihn so begeistert, dass er nach der Schule als Regieassistent ans Schauspielhaus Bochum ging. Später studierte er Szenische Künste in Hildesheim, wo sich die Truppe kennenlernte.

Laura Schäffer, künstlerische Leiterin von machina eX, hatte schon als Kind den Impuls, Computerspiele ins Analoge zu übertragen. "Mit Ordnern und anderem Kram habe ich Super Mario für meine Katze nachgebaut", sagt Schäffer. Alle Machinisten bringen frühe Spielerfahrung und ihre digitale Sozialisation ins Theater mit.

Die darstellende Kunst heißt sie willkommen, denn sie sucht noch nach Formen der Auseinandersetzung mit der digitalen Welt. Dieser Welt, die auch ihre eigene Rezeptionskultur mitbringt. Die ist häufig multilinear, bisweilen sogar non-linear. Im Internet liest man mit jedem Link woanders weiter. Und sie ist interaktiv bis hin zum "Prosumer", der Mischung aus Produzent und Konsument, der mittlerweile in allen traditionellen Kulturformaten mitmischt. Musiker wie REM oder Yoko Ono veröffentlichen Songs unter freier Lizenz, damit ihre Hörer sie weiterentwickeln können. Autoren lassen Leser online an Manuskripten mitschreiben, Arte sendet Krimis zum Mitbestimmen.

Hilfe von Joysticks

"Auch im Theater ist Partizipation eine der zentralen Fragen", sagt Kathrin Tiedemann, künstlerische Leiterin des FFT Düsseldorf, "und viele arbeiten an zeitgemäßen Antworten". Unter den Inszenierungen, die sich an Antworten versuchen, sind viele, die mit Funktionsweisen von Computerspielen arbeiten.

2007 inszenierte God's Entertainment die Kickbox-Show "Fight Club - realtekken". Hier konnten die Zuschauer mit Hilfe von Joysticks die Darsteller bei ihrer Prügelei steuern - wie ein Spieler seinen Avatar. Doch die vielbelobte Immersion, das Verschmelzen von Spieler und Spielfigur, blieb aus. Wahrscheinlich ist ein Schauspieler zu sehr selbst Person, als dass sich Spieler in ihn hineinversetzen würden wie in eine Pixelgestalt.

Das Schweizer Kollektiv Extraleben drückte bei ihrem Stück "Yet Another World" im vergangenen Jahr dem Publikum ebenfalls Controller in die Hand. Aber auf der Bühne imitierten nicht Schauspieler ein Computerspiel, sondern Avatare im Computerspiel "Grand Theft Auto IV" spielten das Stück. Es wurde auf Großleinwand gezeigt und von Schauspielern auf der Bühne synchronisiert. Jeder Zuschauer steuerte seinen Avatar in dieser Kulisse und sah auf einem zusätzlichen Bildschirm dessen Perspektive. Aber die Zuschauer-Avatare sind auch in der Spielkulisse nur Zuschauer. Sie können sich bewegen und so ihre Perspektive auf das Geschehen verändern, damit erschöpft sich das Interaktionspotenzial aber auch schon.

Den Effekt der Immersion schafft eher das Interaktionstheater, das den Zuschauer als körperlich Handelnden einsetzt. Berühmt sind die Parallelwelt-Installationen des dänischen Kollektivs Signa. Im vergangenen Jahr inszenierte Signa in Berlin etwa "Club Inferno", eine an Dantes Inferno angelehnte Clublandschaft der Hölle. Der Zuschauer durchwandert diese Welt, wird zum Mitmachen aufgefordert und in Geschichten verwickelt.

"In manchen Punkten ist Signa ein Vorbild für uns", sagt Laura Schäffer, "aber es gibt auch markante Unterschiede. Wir entlasten den Spieler mehr, er trägt nicht die ganze Verantwortung dafür, wie die Geschichte verläuft." Unterschiedliche Level an Verantwortung werden spürbar, als in Gohptal plötzlich gemeldet wird, dass das Camp in 48 Stunden geräumt wird. Alle werden nervös, Konventionen fallen, jetzt scheint alles möglich.

Die Fabrikchefin schmuggelt so viel Geld wie möglich und bereitet ihre Flucht vor. Ihr Freund trennt sich von ihr, er will bleiben. Währenddessen beginnen die Flüchtlinge zu tricksen. Einer lenkt die Kioskbesitzerin ab, damit ein anderer Telefonkarten klauen kann. Mir fehlt nur noch die Geburtsurkunde. Ich traue mich, vor den Grenzbeamten zu treten. Vielleicht klappt es ja. "Das Gesetz hat sich geändert", sagt der, "die Lörische Republik nimmt nun keine Konfessionslosen mehr auf. Kommen Sie wieder, wenn Sie eine Religion angenommen haben." - "Was?" Frust, Verwirrung, Wut nach zwei Stunden Anstrengung sind unaussprechlich. Keine Frage, diese Empfindungen wären beim reinen Zuschauen nicht so heftig.

"Man kann sich in der Situation nicht dagegen wehren, emotional zu reagieren", sagt Laura Schäffer. So helfe das Spiel auch dabei, Dinge zu begreifen. Diese Annahme von besserem Verständnis durch Partizipation findet derzeit viel Anklang. Sie liegt zum Beispiel auch der Entwicklung der Newsgames zugrunde, Computerspiele, die Hintergründe von Nachrichten erklären, etwa das Spähprogramm PRISM oder den US-Haushalt.

Kooperation mit dem Nationaltheater Mannheim

Dass beim Thema "Flüchtlinge" ein gewisses Maß an Frust und Hilflosigkeit notwendig ist, um systemische Gewalt begreifbar zu machen, ist klar. Aber es ist ein schmaler Grat zwischen ertragbarer Frustration und dem Verlust der Spiellust, den "Right of Passage" nicht für alle Spieler trifft. Manche brechen ab. Aber machina eX justieren nach jeder Aufführung nach, sie sind immer in der Entwicklungsphase. Und sie haben Erfolg. "Neben der freien Szene öffnen sich zunehmend auch große Häuser" sagt Philip Steimel. Demnächst steht eine Kooperation mit dem Nationaltheater Mannheim an.

Bevor in Gohptal die Spielzeit vorbei ist, gelingt es mir, einen Anhänger der S-inhuasu zu heiraten und so seine Religion anzunehmen. Aber noch während ich am Grenzposten anstehe, macht der einfach zu. Die Zeit ist um, das Camp wird geräumt. Heute hat es nur einer geschafft.

Jetzt gibt es Gesprächsbedarf. Was wäre die Lösung bei diesem oder jenem Problem gewesen? Warum hat die Barbesitzerin ständig versucht zu fliehen? Ein paar Fremde beschließen, gemeinsam ein Bier zu trinken, um darüber zu reden, was sie erlebt haben. Das zeigt die große Wirkung, die dieses Theater hat: Das Erlebnis mündet im Diskurs. So erneuert das Theater seine Einschlagkraft im digitalen Zeitalter.

Dieser Text bezieht sich im theoretischen Teil auch auf Texte der Theaterkritiker Christian Rakow und Jan Fischer, dabei kam es zu nicht gekennzeichneten Übernahmen einiger Formulierungen. Diese wurden auf Wunsch der Redaktion nachtkritik.de gestrichen.

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Quelle:
SZ vom 02.04.2014/mri
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