Computerspiele gegen Flashbacks:Die Tetris-Therapie

Das Computerspiel Tetris beugt offenbar quälenden Erinnerungen vor. Gehört das Klötzchen-Puzzle bald zur Standardausrüstung von Rettungskräften und Soldaten?

Simone Einzmann

Immer wieder taucht die junge Frau unter Wasser, wild schlägt sie mit den Armen. Jonathan Taylor blickt in ihre panisch aufgerissenen Augen, dann kommt schon die nächste Szene. Vergeblich versucht ein Feuerwehrmann, die Tür eines VW-Polos zu öffnen, der zerquetscht unter einem Lkw-Anhänger liegt. Aus dem Innenraum des Kleinwagens dringt Stöhnen, der Kameramann zoomt heran. Jonathan Taylor sieht eine Eisenstange, die Wange und Auge des Autofahrers durchbohrt hat.

Computerspiele gegen Flashbacks: Tetris-Spielen wirkt wie eine kognitive Impfung.

Tetris-Spielen wirkt wie eine kognitive Impfung.

(Foto: Foto: ap)

Nach zwölf Minuten endet der Film, und Taylor ist erleichtert. Er hatte sich diesen Morgen angenehmer vorgestellt, als er sich wenige Wochen zuvor zusammen mit 39 anderen Probanden für das Experiment am Institut für Psychiatrie der Universität Oxford angemeldet hatte. Damals war zwar auch von Videos die Rede gewesen, vor allem aber hatte ihm die Neurowissenschaftlerin Emily Holmes erklärt, dass er für eine Studie Tetris spielen sollte.

Bei dem Computerspiel geht es darum, möglichst schnell vom oberen Bildschirmrand heruntergleitende geometrische Figuren an den richtigen Platz zu bugsieren und ein Auftürmen zu vermeiden. Seit seiner Erfindung vor 25 Jahren hat sich das Spiel weltweit mehr als 30 Millionen Mal verkauft.

Heilsames Daddeln

Nun vermutete Holmes, dass Tetris mehr ist als ein netter Zeitvertreib: Es könnte Menschen helfen, die nach einem Trauma unter sogenannten Flashbacks leiden, beispielsweise nach einem Autounfall, dem Anblick von Schwerstverletzten oder einem Terroranschlag.

Flashbacks sind ein charakteristisches Merkmal der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), von der viele Traumaopfer heimgesucht werden. Dabei durchleben sie das Trauma immer wieder von Neuem. Sie zittern oder erstarren und fühlen sich von der Außenwelt abgeschnitten, alleingelassen in einem Raum des Schreckens.

Ganz so schlecht ging es Jonathan Taylor nicht, während er nach der Filmvorführung zehn Minuten lang am Institutscomputer Tetris spielte. Dennoch: Was er und die anderen Versuchsteilnehmer anschließend in einer Art Erinnerungstagebuch festhielten, bestätigte Holmes' Theorie vom heilsamen Daddeln: Sowohl unmittelbar nach der Videovorführung als auch im Lauf der folgenden Woche erinnerten sich die Spieler deutlich seltener an die verstörenden Filmclips als Angehörige einer Kontrollgruppe, die nach dem Gruselfilm 40 Minuten untätig herumgesessen hatten, statt Tetris zu spielen (Plos One, Bd.4, S.4153, 2009).

Kann das Computerspiel in der ernsthaften Traumatherapie also mehr erreichen, als Patienten kurzfristig von ihren Problemen abzulenken? Ja, sagt Emily Holmes. Das schlichte Klötzchenspiel funktioniere wie eine kognitive Impfung: "Es therapiert das Trauma nicht im eigentlichen Sinn, sondern verhindert vorab, dass gewisse Aspekte des Erlebnisses überhaupt abgespeichert werden", sagt die Neurowissenschaftlerin. Das Gehirn kann Sinneseindrücke nicht unbegrenzt verarbeiten. "Es gibt ein Zeitfenster von sechs Stunden, in dem über die Speicherung von traumatischen Erlebnissen entschieden wird", sagt Holmes. Spiele man während dieses Zeitraums zum Beispiel Tetris, sei das Gehirn damit ausgelastet, die bunten, geometrischen Körper zu drehen und zu verschieben.

Lesen Sie auf Seite 2, wie Tetris dem Gehirn ein Schnippchen schlägt.

Schutz vor Flashbacks

Schon länger interessieren sich Neuroforscher für das Computerspiel, doch bislang hatten sie nur dessen Auswirkungen auf Gesunde im Blick. Mit Hilfe verschiedener Arten der Magnetresonanztomographie untersuchte beispielsweise Richard Haier von der School of Medicine der Universität von Kalifornien kürzlich die Gehirne jugendlicher Tetris-Spieler (BMC Research Notes, online).

Nach drei Monaten intensiven Trainings hatten sich bei ihnen vermehrt Nervenzellen in der Hirnrinde eines Areals gebildet, das in dem Moment aktiv ist, in dem man eine Handlungsabsicht in die Tat umsetzt. Gleichzeitig zeigte ein anderes Hirnareal eine erhöhte Aktivität, in dem verschiedene Sinneseindrücke - beispielsweise akustische, optische und taktile - zusammengeführt werden, um einen umfassenden Eindruck von der Umgebung zu schaffen. In der Kontrollgruppe, die kein Tetris spielte, konnte Haier diese Veränderungen nicht beobachten.

Blockade emotionaler Erinnerungsaspekte

So simpel das Computerspiel auf dem Bildschirm aussieht, so vielfältig scheinen also seine Auswirkungen im Gehirn zu sein. Gerade das mache es zur geeigneten Therapie, sagt Emily Holmes; andere Computerspiele hätten nicht den gleichen Effekt. "Flashbacks sind mentale Bilder, die in Gehirnarealen entstehen, in denen optische und räumliche Eindrücke verarbeitet werden. Also kann nur ein Spiel, das auf die gleichen Verarbeitungsressourcen zurückgreift, dem Gehirn ein Schnippchen schlagen."

Während eines traumatischen Erlebnisses verarbeitet das Gehirn zum einen die Sinneseindrücke: den Knall der explodierenden Bombe, den Anblick verletzter Menschen, das Gefühl von Hilflosigkeit. Frühere Studien haben gezeigt, dass Patienten mit PTBS diese überwältigenden Eindrücke genauer abspeichern als die reine Situationsbeschreibung, und vermutlich löst dieses Ungleichgewicht später die Flashbacks aus.

Das Raffinierte an der Tetris-Spielerei ist nun, dass sie lediglich die Speicherung jener emotionalen Aspekte verhindert, die später die Grundlage für die gefürchteten Flashbacks bilden. Die Fähigkeit, das Erlebnis später in einer strukturierten Geschichte darzustellen, bleibt von dem Computerspiel hingegen unbeeinflusst. Das ist hilfreich, wenn Betroffene als Zeugen auftreten sollen oder an einer Gesprächstherapie teilnehmen möchten.

Kritik an der Forschungsmethodik

Das Team um Emily Holmes hofft nun, dass Tetris in Zukunft für Rettungskräfte oder Soldaten im Einsatz zur Standardausrüstung zählen wird. Schließlich sei es eine billige und unkomplizierte Methode, Risikopersonen vor den quälenden Flashbacks zu schützen. Bislang setzt man bei PTBS vor allem die kognitive Verhaltenstherapie ein, Fachleute empfehlen jedoch, damit erst einige Wochen oder Monate nach einem traumatischen Erlebnis zu beginnen.

Kritik an Holmes weitreichenden Plänen kommt von David Alexander, Direktor des Aberdeen Centre for Trauma Research: "Die Probanden litten nicht wirklich unter PTBS, und sie wussten vor der Studie, was mit ihnen passieren würde." Dem hält Catherine Deeprose, Mitautorin der Studie, entgegen, "dass es sich in der Traumaforschung gezeigt hat, dass Videos wie unsere wie echte Traumata zu Flashbacks führen können und somit bei Studien als brauchbarer Ersatz gelten". Aus ethischen Gründen hätten sie ihre Probanden jedoch nicht über die Maßen verstören dürfen.

Bei Jonathan Taylor war jedenfalls keine ernsthafte Belastungsstörung festzustellen. Er freute sich nach der Studie vor allem darüber, wie schnell er es im Tetris von einer Spielstufe zur nächsten geschafft hatte.

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