Süddeutsche Zeitung

Computerspiel: Die Sims 3:Ohne Krise, ohne Kollaps

Ein mustergültiges Exemplar räumlichen Erzählens: "Die Sims 3" perfektioniert die erfolgreichste Computerspiel-Serie der Welt

Tobias Moorstedt

Der Cursor ist ein Skalpell, aber obwohl das Fett langsam abläuft und die Wangenknochen immer spitzer werden, fließt kein Blut. Mit Mausklicks und Tasteneingaben formt man bei dem Videospiel "Die Sims 3" die Gesichter und Körper der Figuren, modelliert die Nase, verschiebt die Haaransatzlinie, bestimmt den Körperfettgehalt, und wird so zu einem plastischen Pixel-Chirurgen. In klassischen Videospielen wie "Pac-Man" oder "Super Mario Brothers" stehen das Ziel des Spiels und das Vermögen der Figur im Vordergrund, ihre Superkräfte, Bewegungsradien und Nehmerqualitäten.

In "Die Sims 3" aber ist der Look wichtiger als die Skills, beginnt das Spiel vor dem eigentlichen Spiel, im Creator Modus, wo man Physiognomie, Frisur und Modestil seiner Figur auswählt, und entscheidet, ob man nun Hausfrau, Nerd, Super-Model oder doch die nette Person von Nebenan spielen will. Vielleicht stutzt man ja kurz, weil man bemerkt, dass das menschliche Gesichter mit den gleichen Befehlen modelliert wird wie Möbel, Häuser und andere Kommoditäten, lässt es dann aber gut sein, und fügt der Game-Genesis das I-Tüpfelchen hinzu: einen Leberfleck auf der Wange.

Gott als Babysitter

Das Computerspiel "Die Sims 3" unterscheidet sich von anderen interaktiven Medienprodukten, weil es den Spieler nicht in fantastischen Räumen absetzt, sondern in einer Kleinstadt, und ihm die Aufgabe stelllt, einen selbst erschaffenen Miniatur-Menschen durch Alltag, Karriere und Sozialleben zu steuern. Sim ist eine Abkürzung für Simulated, der Mensch spielt das Mensch-Sein, und wer das irgendwie seltsam findet, sollte kurz mal jener Generationen gedenken, die mit den analogen Lebenssimulatoren Modelleisenbahn und Puppenhaus groß wurde. Die Sims sind ein Update dieses Prinzip, und kaum weniger erfolgreich als Barbie oder Playmobil - bislang wurden mehr als 100 Millionen Mal Einheiten verkauft. "Die Sims" gelten als die erfolgreichste Spiel-Serie aller Zeiten.

Die dritte Folge der Software-Soap wurde vor Verkaufsstart bereits 200.000 Mal illegal im Internet heruntergeladen, entgegen der üblichen Praxis, schrie der Hersteller jedoch nicht gequält auf, sondern deutete die Piraterie als Manifestation des enormen Marktpotentials, und machte die Zahl inoffiziell zum Teil der Marketing-Kampagne: Das Volk will ein virtuelles Volk. Die Werbeanzeigen lesen sich wie eine Stellenanzeigen für den Beruf "Gott". "Bestimme über das Schicksal der Sims" und: "Passe alles Deinen Wünschen an".

Von oben aus dem Himmel blickt man auf eine Kleinstadt herab, sieht das Straßennetz und blinkende "Tags", die ein Gebäude als Rathaus, Restaurant oder Kaufhaus kennzeichnen. Die Steuerung ist intuitiv, alles erinnert an Google Maps und das Navigationsgerät, mit dem man durch das echte Leben steuert. Man kann nun neue Häuser bauen, die Topographie verändern oder Spielfiguren ein- und auswechseln, meist zoomt man aber wieder heran auf die Ebene der individuellen Lebensführung, und begleitet einen Sim, sorgt - mit einer Skizze der Maslowschen Bedürfnispyramide neben dem PC - dafür, dass er keinen Hunger leidet, ausreichend Sozialkontakte hat und sich insgesamt gut entwickelt. Der allmächtige Gott als Babysitter.

Mit "Die Sims 3" haben die Designer das Spiel nicht neu erfunden, sie liefern ein Sequel im besten Hollywood-Sinne, eine Rekombination von Elementen, die sich bereits als erfolgreich erwiesen haben, mit neuen Gesichtern und mehr Spezialeffekten. Die Tatsache jedoch, dass man nun ein enormes, bruchloses Stadtkontinuum erkunden kann, dass die Pixel-Passanten nicht, wie in Videospielen üblich, nur als anthropomorphe Kulisse dienen, sondern eine eigenen Agenda zu verfolgen scheinen - all das macht "Die Sims 3" zum derzeit überzeugendsten Beispiel für das räumliche Erzählen in Videospielen, wonach die "Plot-Organisation zu einer Angelegenheit des geographischen Designs wird" (Henry Jenkins).

Sim, das klingt wie die Wörter Klon oder Bot, die aus Science-Fiction-Texten vertraut sind, und meint etwas ganz ähnliches: eine Ableitung vom Menschen. "Wir wollten den Spielern die Möglichkeit geben eine Seele zu entwerfen", sagte Benjamin Bell, Sims-Projektleiter bei Electronic Arts im Vorfeld der Veröffentlichung. Konkret bedeutet das: Man gestaltet nicht nur das Körper-Design einer Figur, sondern auch ihre Innenwelt, wählt aus etwa 70 "Persönlichkeitsmerkmalen" - Bücherwurm, Athlet, neugierig, charismatisch, kleptomanisch, gut und böse - fünf "Marker" aus, welche den Charakter des Sims bestimmen.

Ein Blind-Date ist hier gefahrlos

Der letzte Schritt in der digitalen Menschwerdung ist dann die Auswahl eines so genannten "Lebensziels": Bestseller-Autor, Rockstar, Führer der freien Welt. Für die Generation "Deutschland sucht den Superstar" sind allein dies adäquate Ziele. Selbst wenn also die Produzenten nun immerzu die Tiefe des Spiels betonen: Bei den Sims herrscht eine Kultur der Oberfläche. Ein Künstler! Ein Verbrecher! Ein Athlet! Alles ist, was es ist, weil es so aussieht.

Sims "sprechen" in einem Mix aus sinnfreien Lauten und Icons, trotzdem bereitet die "Kommunikation" im Spiel zunächst die meiste Freude. Das "Gespräch" wird durch ein dynamisches Multiple-Choice-System gesteuert. Je besser die ausgewählten Aussagen (mache ein Kompliment, rede über das Wetter, mache einen Witz) zu der Persönlichkeitsstruktur des angesprochenen Sims passt, desto positiver reagiert die Figur. Der Spielspaß entsteht hier aus der Erkundung von Systemen - was steckt in der Black Box, und wie kann man sie reizen, damit sie tut, was man will? Wirklich komplex ist der Persönlichkeitsalgorithmus allerdings nicht programmiert: durch einen gewagten Dreisprung - Kompliment / interessierte Frage / dramatische Geschichte findet einen die neue Bekanntschaft sofort unwiderstehlich. Ein Blind-Date ist in diesem System keine Gefahr!

Mehr noch als durch Charakter-Items definiert man seine Figur ohnehin durch Konsum. Die erste Regung, welche der Sim von sich gibt, ist: "Ich hätte gerne eine Couch!" Sofort wird ein Info-Fenster eingeblendet, welches darüber informiert, dass man auf einer Couch bequem sitzen könne und deshalb die Zufriedenheit der Spielfigur erhöht werde, und präsentiert einen Warenkatalog mit 30 Modellen, in dem Preislagen, Materialien und Sitzkomfort beschrieben werden. Der Sim ist gerne eine Benjaminscher Etui-Mensch, das Shoppen und Wohnen ist ihm Hauptbeschäftigung und Quelle der, wie es in dem Spiel heißt, Lebensglücklichkeit.

Stühle, Auto, Fernseher, Tapete, Gartenlaube - während man Statussymbole und Existenz-Zeichen hin und her schiebt, und das virtuelle Feng Shui optimiert, fühlt man sich bald wie einer jener Design-Dikatoren, die bei der Fernsehsendung "Mein Neues Heim" die Inneneinrichtung "exakt auf die Persönlichkeit des Bewohners zuschneiden". Haben die Programmierer Baudrillards "Das System der Dinge" gelesen? "Der Inneneinrichter", schreibt der französische Theoretiker darin, "ist kein Designer, und auch kein Nutzer, er ist ein aktiver Ingenieur von Atmosphäre. Er kontrolliert den Raum, und so auch alle möglichen gegenseitigen Beziehungen der darin enthaltenen Objekte."

"Build! Buy! Live!", heißt der Werbeslogan der Sims-Serie in bestechender Offenheit. Zwar verteidigen Produzenten und Fans "Die Sims" oft als "Parodie des Kleinstadtlebens", aber: Wer einkauft, wird belohnt. Interessant ist freilich die Frage, ob eine Parodie im Modus der Simulation überhaupt möglich ist. Denn das Stilmittel der Parodie funktioniert eben besonders gut in narrativen Texten, in denen die Prozesse der Konsumgesellschaft beschrieben werden.

In einer Simulation aber muss der Spieler die Aktionen selbst ausführen, und dabei die systemischen Werte beachten. "Die Sims" hat ironische Momente, wenn man sich etwa dabei ertappt, wie man 30 Minuten damit verbringt, einen Stuhl von Ron Arad möglichst detailgetreu nach zubauen. Der subversive Gehalt entspringt jedoch nicht dem Spiel-System, sondern eher der Selbstironie des Nutzers.

Wie man das Leben aussperrt

Die Sim-City ist eine Vorstadt ohne Kreditkrise und Kollaps des öffentlichen Nahverkehrs. Während im realen Kalifornien die Häuser gepfändet werden und der Staatsbankrott droht, ist in diesem Pixel-Pleasantville alles heil geblieben. Vielleicht ist das richtig so, vielleicht besteht die Aufgabe der Medien nun nicht mehr darin, Suburbia mit Filmen wie "American Beauty" zu entlarven und zu dekonstruieren, vielleicht bedarf die Mittelschicht eines Fluchtraums, in dem sie die Vor- und Kleinstadt feinsäuberlich wieder aufbauen kann. Die Welt, das ist das frappierende und faszinierende an "Die Sims", die Beziehungen, Karrieren, die öffentliche Ordnung, sie funktioniert.

Das liegt übrigens auch daran, dass eben nicht alles möglich ist, dass der Code beinahe unmerklich Grenzen setzt, und dass man nicht, wie etwa in dem gescheiterten Metaversum "Second Live", mit einer unbegrenzten Anzahl an echten Menschen und ihren fragwürdigen Motiven konfrontiert wird. "Die Sims 3" ist, bewusst unzeitgemäß, kein Online-Rollenspiel, man bleibt offline, unverbunden, interagiert nicht mit Freunden oder Fremden, sondern ausschließlich mit Sims.

Das Spiel, das vorgibt, den Menschen in all seiner Vielfalt, mit seinen Defiziten und seinem Potential zu lieben und zu feiern, folgt eigentlich einem misantropischen Modell: In dem die Programmierer die echten Menschen aussperren, machen sie das Leben wieder lebenswert.

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Quelle:
SZ vom 15.06.2009/mri
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