Computerspiel "Bioshock Infinite":Reise durch einen bizarren Wachtraum

Lesezeit: 4 min

Die Leidenschaft, die spürt man: Computerspiel Bioshock Infinite (Foto: PR)

Das Design ist nicht perfekt. Die Story wiederholt sich. Mitunter kommt gar Langeweile auf. Trotzdem muss man auch mit einigen Monaten Distanz attestieren: "Bioshock Infinite" ist das Computerspiel des Jahres.

Ein Gastbeitrag von WASD-Autor Thomas Lindemann

Natürlich, es gab "The Walking Dead", ziemlich beeindruckend. Und es gab "FarCry 3" und "Tomb Raider", verschlungene Geschichten mit Atmosphäre. Auch die "Metro"-Reihe wird immer besser. 2013 ist ein gutes Games-Jahr. Vieles davon kann man wirklich großartig finden.

Aber eines schlägt alle. Als die die beiden Games-Kritiker und Videoblogger des US-Magazins Wired kürzlich die Spiele mit den besten Storys vorstellten, hieß der erste Satz: "Seit zwei Monaten ist es da und ich denke immer noch über 'Bioshock Infinite' nach." "Bioshock" kam auf Platz eins. Und es ging nicht um diese Saison oder dies Jahr. Es ging um die besten Games aller Zeiten. Von "Grim Fandango" über "Half-Life" bis heute.

"Bioshock Infinite", der krönende dritte Teil einer beeindruckenden Reihe, ist mehr als nur irgendein gelungenes Spiel. Das zeigt sich schon daran, dass eine herkömmliche Games-Kritik fast unmöglich ist und wenig aussagen würde. Wen interessieren Framerates, wenn wirklich eine Welt gerettet werden muss? Oder zerstört werden muss? Das optische Design ist ja gar nicht immer perfekt, und das Spiel wiederholt sich, wie alle Spiele, späterhin arg. Es wird manchmal langweilig. Die Vielfalt der quasimagischen Waffen - mit der Hand einen tödlichen Krähenschwarm aus dem Nichts losgeschickt - wirkt mitunter wie ein alberner Budenzauber. Aber das alles ist ganz egal. Der Kern dieses Spiels, sein wahrer Zauber, liegt woanders.

Etwa beim Empfinden. Man kann endlich wieder über das reden, was eigentlich immer schon unseren Spielspaß bestimmt hat: Das Gefühl. Man hat bei "Bioshock" etwa das Gefühl, nicht allein zu sein. Und ja, die kleine Elisabeth, die wir hier begleiten und retten müssen, lässt einen durchaus mehr mitfühlen als Barney aus "Half-Life". Ich werde in diesem Spiel also die ganze Zeit begleitet. Das gibt Halt in der Reise durch einen äußerst bizarren Wachtraum.

Das Spiel mit kulturellen Topoi, die jeder kennt, und die hier nur zu einem ganz neuen Wahnsinn zusammengesetzt werden, beginnt im Film Noir. Man ist ein Detektiv, der ein Mädchen aus einer Art häuslichen Gefangenschaft befreien soll. Für wen, bleibt unklar. Man reist in die Wolkenstadt Columbia, ein fliegendes Monument menschlicher Potenzfantasie: Die schwebende Metropole, komplett von Ballons getragen, scheint die Krönung der aktuellen Technik. Aktuell heißt 1912, als die Menschen noch an Mesmerismus glaubten und Eiffeltürme um die Welt verschifften.

Das dunkle Zeitalter kurz vor der großen Katastrophe des 20. Jahrhunderts ist eine interessante Wahl, es wirkt fern aber doch stark technisiert. So kann es dann in der Stadt Columbia absurd schöne Erfindungen geben wie das Überkopf-Schienensystem, in das jeder sich mit einem Haken einklinkt. Verrücktheiten also, die es so noch in keinem Spiel gab. Und Columbia sieht zunächst hell und unschuldig aus - was natürlich täuschen wird. Nach einer knappen halben Stunde, also sehr früh, wird der Spieler ihre hässliche Seite kennenlernen: Rassenhass, der nichts außer Weiße duldet. Da man sich dem reflexhaft widersetzt (was sonst) und die auf einer Kirmesbühne angeprangerte Schwarze retten will, ist es fortan vorbei mit dem Frieden und wir spielen den Aufrührer, der vom ultrachristlichen Establishment gejagt wird - in einer ab jetzt chaotischen Welt. Das auch noch Bürgerkrieg hereinbricht, ist dann nur ein Übel unter vielen.

Der Autor und Gamedesigner Ken Levine, der nicht nur diesem Spiel seinen Charakter gab sondern vorher auch "Thief" und "System Shock 2", wollte einst eigentlich nach Hollywood, schrieb auch mindestens zwei Drehbücher. In einer unter Freaks und Geeks berühmten Rede von 2008, die auf Youtube abrufbar ist, sagt er: "Ich hab mich nie wohlgefühlt unter den Filmleuten, ich wollte nur auch dazugehören, einmal nicht mehr der Spinner sein, der D&D spielt. Erst unter den glücklichen Freaks, die Games machen, hab ich mein Zuhause gefunden." Da hat einer in Hollywood geschrieben, ist dort gescheitert und musste erst in die Games-Szene finden, um seine komplexen Geschichten zu erzählen.

Der Egoshooter bleibt, auch das beweist "Bioshock" wieder, das ganz große narrative Experiment unter den Games. Selbst bei "Mass Effect" stört das immer wiederkehrende Geklicke auf Etagen im Raumschiff oder Routen im All doch sehr. Nur der Egoshooter erzählt flüssig und mitreißend. Und weil "Bioshock" das alles so gut kann, erzählt uns nun also ein Shooter eine recht verschlungene Story über Frömmigkeit und Verrat, über Einsamkeit und Vaterliebe. Wer mag, kann aktuelle Bezüge an jeder Ecke finden. Die neuen Konservativen, die sich ausgerechnet auf die Boston Tea Party beziehen, auch so einen Bürgerkriegsakt, kann man leicht wiedererkennen. Aber auch eine leicht entartete Version der Occupy-Bewegung, hier heißt sie Vox Populi.

Die Dystopie steckt im Spiel

Außerdem spielt "Bioshock", wenn es uns losschickt als Booker Dewitt, diesen Detektiv, dann Staatsfeind Nummer eins, dann Vaterfigur für ein Mädchen, mit den Formen des Spielens überhaupt. Wo es Personen nicht mehr verändern kann (übrigens eine alte Maxime der Hollywood-Drehbuchautoren: Die Entwicklung der Charaktere ist alles), verändert es schlicht die ganze Welt. Denn die kleine Elizabeth, die uns begleitet, hat die Fähigkeit, so genannte Risse in der Realität zu öffnen und manchmal Portale in ein Paralleluniversum zu schaffen, in dem alles anders ist. Die Dystopie steckt hier also innen im Spiel - welch eine Verschwendungssucht - andere hätten aus "Bioshock Infinite" vier oder fünf Games gemacht. Eine Welt ist nicht genug! Da kommen die Ideen des Starphysikers Stephen Hawking, die jeder ja als Kind gelesen hat, mal in einem Spiel zum Leben.

Übrigens, das Thema der zerfallenden Identität nervt in Videospielen ja eigentlich inzwischen sehr. Jeder Entwickler, der etwas Besonderes möchte und sich für originell hält, schreibt am Ende seines Spiels hinein, dass die Hauptfigur irgendwie gar nicht der war, für den er sich hält. Das ist bei "Call of Duty" inzwischen Pflicht. Ärgerlich. Bloß hier, bei "Bioshock Infinite", eben nicht. Denn es ist keine spektakuläre Zutat. Hier beweist es nur, dass dieses Spiel Herz hat. Und das macht es so gut. Alle guten Details - die Risse in der Realität, die herrlichen Räume, die vertrackten Kämpfe - könnte man wegwerfen, sie bedeuten für sich nichts. Was dieses Spiel so groß macht, ist nur, dass es mit heißer Leidenschaft eine Geschichte erzählen will. Die mag teils ziemlich beknackt sein. Aber die Leidenschaft, die spürt man. Deswegen ist Bioshock Infinite das Spiel des Jahres.

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