Computersoftware "Truth Teller":Algorithmen als Schiedsrichter

Barack Obama hält seine Rede an die Nation

US-Präsident Obama: Im Hintergrund überprüft ein Algorithmus jeden Satz

(Foto: AFP)

Faktenchecker heißen in den USA Journalisten, die den Wahrheitsgehalt von Politikeraussagen überprüfen. Bei Präsident Obamas Rede zur Lage der Nation versuchte sich erstmals eine Software an dieser Aufgabe. Noch ist der digitale Lügendetektor nicht ganz ausgereift. Doch schon wird von einer Truth-Teller-App geträumt.

Von Niklas Hofmann

Am 9. September 2009 ging der republikanische Kongressabgeordnete Joe Wilson in die amerikanische Politikgeschichte ein. An jenem Tag unterbrach der Mann aus South Carolina die Rede von Präsident Obama über dessen geplante Gesundheitsreform vor den versammelten Abgeordneten von Senat und Repräsentantenhaus, indem er brüllte: "You lie!" - "Sie lügen!" Illegale Einwanderer profitierten nicht von den Reformvorschlägen, hatte der Präsident zuvor gesagt. Das sah Wilson offensichtlich anders.

Seine Respektlosigkeit brachte ihm neben viel Beifall aus den Reihen der Tea-Party-Bewegung eine parlamentarische Missbilligung ein. Aber hatte er inhaltlich recht? Hatte der Präsident gelogen? Das zu überprüfen, daran machte sich sogleich eine Klasse, die im öffentlichen Leben der USA inzwischen die Rolle einer letzten Instanz einnimmt: die Faktenchecker.

Denn Wahrheit und Lüge, das sind längst Kategorien geworden, auf die man sich im polarisierten politischen Diskurs Amerikas nicht mehr ohne Weiteres verständigen kann. Themen wie der Klimawandel oder die Evolutionstheorie, die anderswo dem Parteienstreit weitgehend enthoben sind, spalten in den USA die Gesellschaft. Zugleich ist jener Teil der amerikanischen Medien, der sich - anders als aufgeregte Kabelnachrichtensender wie auf der rechten Seite Fox News oder auf der linken MSNBC - als überparteilich ansieht, von dem tiefsitzenden Trauma besessen, man könne als politisch befangen angesehen werden. Sagt also ein Politiker, das Gras sei grün, ein anderer aber, das Gras sei rot, so lässt man gerne beide Ansichten zu Wort kommen und bezeichnet die Angelegenheit als "umstritten".

Der Faktenchecker entscheidet leidenschaftslos wie sachorientiert

Aus dieser auch von Journalisten selbst empfundenen Malaise scheint die Institutionalisierung des Faktenchecks einen Ausweg zu weisen. Berichtet wird über beide Seiten. Abseits davon aber entscheidet dann der Faktenchecker so leidenschaftslos wie sachorientiert über die real nachweisbare Farbe des Grases. Mal sind es Medienhäuser, mal Universitäten oder Stiftungen, die die Tatsachenprüfer finanzieren. Einige sind mittlerweile zu bescheidener Prominenz aufgestiegen. Glenn Kessler von der Washington Post zum Beispiel.

Im Fall des Zwischenrufers Wilson waren die Urteile recht einhellig. Das Truth-o-Meter von Politifact bewertete seine Aussage mit "falsch". FactCheck.org formulierte etwas vorsichtiger: "Der Abgeordnete Wilson hat sicherlich eine Grenze überschritten, als er die Aussage des Präsidenten eine Lüge genannt hat."

Algorithmus noch im Lernprozess

Die hübsche Arbeitsteilung im Journalismus leidet allerdings noch unter dem Umstand, dass es sich selbst bei Amerikas bekanntesten Faktencheckern um menschliche Wesen handelt. Wenn sie Politikeraussagen sezieren, dann handeln auch sie sich schnell den Vorwurf unfairer Behandlung ein und werden des schamlosen Parteigängertums verdächtigt.

Glenn Kessler etwa wurde im jüngsten Wahlkampf von den Republikanern für einen besinnungslosen Obama-Fan gehalten, von den Demokraten dagegen, wenn er in seiner Kolumne Pinocchio-Punkte für erwiesene Unwahrheiten in Reden und Wahlwerbespots vergab, für einen hinterhältigen Büttel von Mitt Romney.

Als Barack Obama am Dienstagabend amerikanischer Zeit die erste Rede zur Lage der Nation in seiner zweiten Amtszeit hielt, war Joe Wilson wieder dabei, blieb diesmal aber ruhig. Und Glenn Kessler fühlte wie stets den Fakten auf den Zahn (der Präsident "pickt sich bei den Arbeitsmarktzahlen die Rosinen heraus", lautete dieses Mal sein Urteil). Es verfolgte allerdings noch jemand anderes bei der Washington Post die Ansprache aufmerksam. Die Rede ist von einer Software namens Truth Teller. Aus ihr soll einmal der automatisierte Faktenchecker der Zukunft werden. Obamas Rede war der erst interne Testlauf des neu entwickelten Programms unter Live-Bedingungen.

Funde bei der Steuerpolitik gibt es schon

Cory Haik ist als ausführende Produzentin für digitale Nachrichten bei der Washington Post für das Truth-Teller-Projekt verantwortlich. Viel mag sie am Morgen danach nicht über die Wahrheitsliebe des Präsidenten sagen: "Es war ein Test für uns und wir arbeiten noch daran. Wir sind einfach noch nicht so weit, klare Aussagen dazu zu machen, wie ehrlich er war." Einige kleine Funde in der Steuerpolitik hat der Truth Teller allerdings wohl doch gemacht, glaubt Haik, bei aller Vorsicht die bei "Work in Progress" wie diesem natürlich geboten sei.

Einigermaßen sicher funktioniert der Prototyp bereits bei aufgezeichneten Videos von Politikerreden. Das heißt konkret: Das Programm konvertiert zuerst die Tonspur in geschriebenen Text. Der Algorithmus sucht dann nach Tatsachenbehauptungen, die sich inhaltlich überprüfen lassen. "Es ist schwierig, bestimmte Sätze zu finden, die genau passen, darum konzentrieren wir uns stattdessen auf Muster", erklärt Haik. Als Fuzzy-String-Suche oder unscharfe Suche wird so ein Algorithmus in der Informatik bezeichnet, der nicht nur exakt gleiche, sondern auch falsch geschriebene Wörter oder sinn- und sachverwandte Begriffe entdecken kann. "Der wird noch modifiziert werden, um in Zukunft Paraphrasen und negative Konnotationen erkennen zu können."

Noch greift der Truth Teller zudem in erster Linie auf eine Datenbank zurück, die mit jenen Faktenchecks gefüllt wurde, die Kessler und andere bereits mit menschlicher Geisteskraft erstellt haben. Langfristig aber soll das Programm dann direkt auf Datenmaterial zurückgreifen, das als zuverlässig eingestuft wurde. Darunter muss man wohl amtliche Statistiken, wissenschaftliche Untersuchungen oder Pressearchive verstehen. Vor allem aber soll der Truth Teller einmal als Smartphone-App mobil werden, damit Bürger Politikerreden im ganzen Land, weitab von der Aufmerksamkeit der Medien auf sachliche Richtigkeit prüfen können.

Technik lässt die Alltagslügen nicht durchgehen

Aber bedeutet das nicht einen gewaltigen Einschnitt für die öffentliche Debatte? "Ja, genau das ist das Ziel", sagt Cory Haik von der Washington Post. "Das Ziel des Truth Tellers ist es zu tun, was Journalisten versucht haben, seit der erste Reporter dem ersten Politiker gelauscht hat: Schon im Moment der Lüge aufzudecken, dass eine Führungspersönlichkeit lügt. Wenn man das vollständig umsetzen könnte, hätte das tiefgreifende Konsequenzen."

Ob der Truth Teller die hohen Erwartungen erfüllen oder eher zum Helfershelfer vorlauter Joe Wilsons wird, zum digitalen Zwischenrufer des 21. Jahrhunderts, das ist natürlich die Frage. Auf jeden Fall ist er als Wahrheitsmaschine eine sehr amerikanische Antwort auf eine sehr amerikanische Frage. Nur unter den besonderen Bedingungen des politischen Diskurses in den USA ist zu erklären, wieso das, was eigentlich eine Kernfunktion jeder Form von Journalismus sein sollte - zu überprüfen, ob eine Behauptung der Wahrheit entspricht - überhaupt an die neue Klasse der Faktenchecker ausgelagert wurde, und warum man nun an ihrer automatisierten Variante tüftelt.

Dennoch reicht sein denkbares Potenzial natürlich weit darüber hinaus, die Post-Fakten-Gesellschaft der USA wieder auf den Boden eines Konsenses über fundamentale Tatsachen zurückzubringen. Denn wenn die Technik als Smartphone-App einmal fehlerfrei funktionieren sollte, ist schließlich kein Grund zu erkennen, warum sie nicht auch abseits der Politik angewendet werden kann.

Mobile Netz als Schiedsrichter in Zweifelsfällen

Warum sollte neben dem politischen Redner nicht auch der Hochschullehrer, der Oberstudienrat, überhaupt jede andere Autorität in Echtzeit auf seine Ehrlichkeit (oder jedenfalls auf seine sachliche Kundigkeit) geprüft werden? Noch ist man längst nicht so weit, aber eine funktionierende Wahrheits-App könnte unser aller Verhältnis zu Wahrheit und Lüge völlig neu sortieren. Längst haben wir uns ja auch daran gewöhnt, dass die Technik uns viele kleine Lügen des Alltags nicht mehr durchgehen lässt - darüber, wo wir uns gerade aufhalten etwa, oder ob und wann wir eine Nachricht gelesen haben.

Und schließlich wird das mobile Netz ja bereits heute alltäglich zum Schiedsrichter in Zweifelsfällen und Zwistigkeiten jeder Art gemacht. Wo man sich früher auf Partys die Köpfe darüber heiß reden konnte, wer im DFB-Pokalfinale 1981 im Tor von Eintracht Frankfurt stand, wirft heute mit Sicherheit jemand alsbald einen Blick in die Wikipedia-App - und die Sache ist entschieden. Es war übrigens Jürgen Pahl. So steht's dort jedenfalls geschrieben.

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