Süddeutsche Zeitung

Computerpionier Konrad Zuse:Der Großrechner

Er suchte das "mechanische Gehirn", heraus kam ein Computer. Vor 100 Jahren wurde Konrad Zuse geboren: Er baute den ersten frei programmierbaren Rechner der Welt, doch ein deutscher Bill Gates wurde nie aus ihm.

Alexander Stirn

Das erste Start-up der Computergeschichte ist ein kleines, nicht sehr erfolgreiches Familienunternehmen - untergebracht in einem Jugendstil-Wohnzimmer in Berlin-Kreuzberg. Der Vater schwingt die Laubsäge, die Schwester opfert ihr Gehalt, die Mutter bekocht den Junior und seine Freunde. Für ein warmes Essen, etwas Freibier und eine Reichsmark Stundenlohn werkeln die jungen Männer an den Maschinen.

Zwischen all dem steht ein 26-Jähriger mit einer fixen Idee: Konrad Zuse, gerade erst mit seinem Bauingenieur-Studium fertig geworden, hat sich in den Kopf gesetzt, ein "mechanisches Gehirn" zu bauen - den ersten frei programmierbaren Computer der Geschichte. Und so tanzen im elterlichen Wohnzimmer, unter der Stuckdecke der Berliner Methfesselstraße, alle nach seiner Pfeife.

Wissenschaftler und Visionär

Die Indizien sprechen gegen ihn, doch Konrad Zuse ist kein verrückter Erfinder, kein Garagen- oder Wohnzimmerbastler. Er ist Wissenschaftler, Visionär. Er ist jemand, der seiner Zeit weit voraus ist, nur um wenig später vom Zug der Zeit überrollt zu werden. Er ist jemand, der vom aufziehenden Nationalsozialismus profitieren wird, den die Nazis aber auch um die Früchte seiner Arbeit bringen. Konrad Zuse ist ein tragisches Genie. Am heutigen Dienstag wäre er 100Jahre alt geworden.

Schon als kleiner Junge fällt Konrad Zuse mit seinen Tüfteleien auf. Im Alter von zehn Jahren bastelt er seinen Eltern eine Treppenlicht-Schaltung. Er liebt seinen Metallbaukasten. Er konstruiert einen Mandarinenautomaten, der gegen Geld das Obst ausspuckt - und manchmal auch die zuvor eingeworfenen Münzen. Zuse ist ein ordentlicher Schüler, mit einem "Gut" in Mathematik, einem "Sehr Gut" in Freihandzeichnen und dem unter Denkern obligatorischen "Mangelhaft" in Turnen.

Der Sohn eines Postbeamten ist aber auch eines jener Multitalente, die sich schwer tun, das richtige Studienfach zu finden. Er wechselt dreimal die Fakultät, versucht sich zwischendurch gar als Reklamezeichner, nennt sich selbst einen "Bummelstudenten" und landet 1935 bei den Henschel-Flugzeugwerken. In riesigen Rechensälen sitzen dort die Statiker und ermitteln Schritt für Schritt, per Hand und mit einfachen Rechenschiebern, die bestmöglichen Konstruktionen für die Flugtechnik.

Zuse, den Macher, langweilt das. Mathematik ist für ihn ein Werkzeug, und Werkzeuge sollten von Maschinen bedient werden. "Ich war zu faul zum Rechnen", wird er später mit der ihm eigenen Koketterie sagen, wenn ihn jemand auf den Auslöser seiner Erfindung anspricht.

Die Faulheit erfordert zunächst aber großen Einsatz: 30.000 Bleche vom Altwarenhändler, beweglich gelagert und mit Stiften verbunden, sollen im "mechanischen Gehirn" die logischen Operationen übernehmen. Drei Jahre dauert es, bis sie von Zuses Vater, seinen Freunden und seiner Theatergruppe ausgesägt und montiert sind.

Kurbeln, Walzen und ein Höllenlärm

Die Maschine, die dabei herauskommt, ist so groß wie ein Esstisch für acht Personen. Sie ist quadratisch-flach, sie wird von einem Staubsaugermotor angetrieben, sie macht einen Höllenlärm. Kurbeln, Walzen und Stangen aus dem Metallbaukasten rotieren dann um die Wette. Ihre Instruktionen bekommt die Maschine von einem Filmstreifen, den Zuse mit einem Locher malträtiert hat.

Wie zuvor schon der Mandarinenautomat ist auch die Rechenmaschine ein äußerst launisches Wesen: Meist verklemmen sich die Bleche und verhindern so die Kalkulationen. Kommt die Maschine aber zum Rechnen, dann stimmen die Ergebnisse. Zuse, nie ein Freund allzu großer Bescheidenheit, nennt sein Erstlingswerk Z1, Zuse 1.

Die Z2 soll nicht lange auf sich warten lassen. Ein Freund gibt Zuse den Rat, das Rechenwerk nicht mit Blechen, sondern mit elektrischen Schaltern aufzubauen - mit Relais, wie sie in Telefonanlagen benutzt werden. Zuse hat keine Ahnung von Elektrotechnik.

Das Grundgerüst jedes Computers

Aber er macht es wie immer: Er liest sich ein, er leiht sich noch mehr Geld und versucht es einfach. Die Z2 ist nicht mehr als ein Demonstrationsobjekt, doch sie überzeugt die Ingenieure der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt, denen er die Maschine vorführt. Die Flugzeugforscher, längst in Diensten der nationalsozialistischen Rüstungspolitik, machen 25.000 Reichsmark für ein Nachfolgemodell locker.

Ein anderes Problem bleibt: Im Deutschen Reich gibt es kaum Baumaterialien. Für den Berliner Ingenieur bedeutet das, auf alles Unnötige verzichten zu müssen. Während Forscher in den USA Rechenmaschinen planen, in denen Zehntausende Relais die Arbeit verrichten sollen, vertraut Konrad Zuse auf seinen Ingenieursgeist. Statt auf Masse setzt er auf Ideen - zum Beispiel aufs Binärsystem, auf jene Nullen und Einsen, die seitdem das Grundgerüst jedes Computers bilden.

Wie sehr sich Zuse in die Nazi-Strukturen verwickeln lässt, wie nah er der Ideologie des Dritten Reichs steht, wird auch Jahrzehnte später noch die Historiker beschäftigen.

Außer Frage steht, dass ihm seine Fähigkeiten Privilegien verschaffen: Konrad Zuse wird als "unabkömmlich" eingestuft und muss nicht an die Ostfront. Stattdessen entwickelt er für die Henschel-Werke zwei Computer, die die Flugeigenschaften von Gleitbomben verbessern. Er darf mitten im Krieg seine eigene Firma gründen. Ihm werden, wie Zuse es nennt, "Fremdarbeiter" zugeteilt. Und er kann weiter an seiner geliebten Z3 bauen.

Am 12. Mai 1941 ist es schließlich so weit: Konrad Zuse präsentiert einem ausgewählten, nicht sonderlich beeindruckten Publikum seine Maschine. Sie wird als "erster voll funktionsfähiger und frei programmierbarer Computer in binärer Gleitpunktrechnung" in die Geschichte eingehen - kurz als erster funktionierender Digitalrechner.

So breit wie eine Schrankwand

Die Z3 besteht aus 30.000 Kabeln und knapp 2500 Relais, die größtenteils aus einer Abfallkiste des Oberkommandos der Wehrmacht stammen. Sie kann 64 Zahlen speichern, braucht 0,8 Sekunden für eine Addition und etwa drei Sekunden für eine Multiplikation. Sie wandelt Eingaben selbsttätig ins Binärsystem um und zeigt die Ergebnisse ihrer Berechnungen mittels Glühbirnen an. Etwa eine Tonne schwer ist die Z3 und so breit wie eine Schrankwand. 1944 wird sie bei einem Bombenangriff auf Berlin zerstört.

Da arbeitet Konrad Zuse bereits - wieder im Auftrag des Reichsluftfahrtministeriums - an der Z4. Die soll das Problem der flatternden Flügel bei Kampfflugzeugen lösen. Doch daraus wird nichts mehr. Kurz vor Kriegsende muss Zuse aus Berlin fliehen. Seine Frau Gisela ist schwanger, doch sein eigentliches Kind ist die Z4.

Mit Güterwaggons, Militärlastwagen und einem Fahrtbefehl der Reichsführung schafft er den fast fertiggestellten Rechner nach Oberbayern, stößt dort aber, wie er später klagt, auf "schroffste Ablehnung".

Patentmeldungen bleiben Staatsgeheimnisse

Er trifft Hitlers Raketenerfinder Wernher von Braun. Doch statt sich wie von Braun den Amerikanern zu stellen und auf die Karriere in den USA zu hoffen, flieht Zuse weiter ins Allgäu - das "Gerät", wie er seine Z4 nennt, immer im Gepäck.

Es beginnt eine harte Zeit. Als Erfinder in Zeiten des NS-Regimes konnte Zuse nicht publizieren, er war isoliert, seine Patentanmeldungen blieben Staatsgeheimnis. Nun weiß niemand von seinen Errungenschaften, von seinen Kenntnissen. Forschung und Entwicklung im Nachkriegsdeutschland stehen still.

Die Briten dagegen können sich nach Kriegsende mit ihren Dechiffriercomputern brüsten. Die Amerikaner erzählen stolz von den Rechnern, die ihnen beim Bau der Atombombe geholfen haben. Computer werden schnell zu einem Synonym für Amerika.

Als Konrad Zuse nach dem Krieg erstmals in die USA reist, führt ihm der Harvard-Forscher Howard Aiken dort stolz seine "Mark I" vor - den "ersten Computer der Welt". Der Großrechner, 1944 und damit drei Jahre nach der Z3 fertiggestellt, ist 16 Meter lang, er besteht aus 765.000 Einzelteilen, er verwendet das unpraktische Dezimalsystem.

Zuse erzählt von seinen Entwicklungen im elterlichen Wohnzimmer, von seiner zerstörten Z3, er gibt Tipps zur Verbesserung von "Mark I". Das Gespräch endet höflich aber bestimmt. Konrad Zuse, der Computerpionier, fliegt zutiefst gekränkt zurück.

Dort schlägt Zuse ebenfalls Missachtung entgegen. 26 Jahre brauchen die deutschen Gerichte, um Zuses Patent auf die Z3 abzuschmettern - wegen "mangelnder Erfindungshöhe". Zuse prägt die Informatik, die sich in Deutschland Mitte der 1960er-Jahre als eigenständige Disziplin entwickelt.

Einen PC hat er nie benutzt

Doch auch er kann nicht verhindern, dass das Fach schon bald als Dorado für Nerds gilt, für weltfremde Einzelgänger mit Vorliebe für Pizza und Cola. Ein Bild, das noch Jahrzehnte später Studenten abschrecken wird.

Auch seine Firma, die Zuse KG, die zu besten Zeiten mehr als 1000 Mitarbeiter hat, läuft nicht sonderlich gut. Konrad Zuse ist kein Unternehmer, kein Bürokrat, kein Theoretiker. Er will immer nur Probleme lösen. Und er ist ein Kind der analogen Zeiten. Mit Elektronen, die in den Transistoren der modernen Computer die Arbeit verrichten, kann er nichts anfangen. Sie lassen sich nicht zeichnen. 1967 schluckt Siemens seine Firma.

Konrad Zuse widmet sich, sichtlich verbittert, der Malerei. 251 Rechenmaschinen hat er in seinem Leben gebaut, über 500 Bilder hat er gemalt. Ein deutscher Bill Gates wäre Konrad Zuse gerne gewesen. Doch dazu hat es für den Erfinder, der zunächst das Glück, später das Pech hatte, im Hitler-Deutschland zu arbeiten, nie gereicht.

Im März 1995 schenkt Zuse dem Microsoft-Gründer ein selbst gemaltes Bild mit dessen Porträt. Bill Gates hängt es in seinem Büro auf. Neun Monate später stirbt Konrad Zuse. Einen PC hat er nie benutzt.

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Quelle:
SZ vom 22.06.2010
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