Chatroulette:Die Zähmung der Freakshow

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Weniger Genitalien, mehr Gespräche: Die wilde Videochatseite Chatroulette will endlich ihr Schmuddel-Image loswerden. Eine unmögliche Aufgabe?

Johannes Kuhn

In den kalten Tagen des vergangenen Winters erwärmte ein neues "nächstes großes Ding" die Herzen der Medienwelt: Eine Internetseite, die Webcam-Nutzer in aller Welt per Zufall miteinander verbindet und so für die kuriosesten Situationen sorgt.

Chatroulette-Screenshots auf YouTube: Anonymität sieht anders aus. (Foto: Screenshot: YouTube.com)

Von einer "surrealen Welt", gar vom "Menschenzoo" wurde geschrieben und Legionen von Journalisten pilgerten nach Moskau, um den 17-jährigen Gymnasiasten Andrej Ternowskij kennenzulernen, der hinter dem Phänomen Chatroulette steckt.

Ein paar Monate später gehören die Webcam-Bilder der maskierten, sich selbst darstellenden oder ihre Genitalien präsentierende Chatter längst zum Alltag der Internetkultur.

Und das ist das Problem.

Nach dem ersten Hype, in dessen Zuge sogar Promi-Sternchen wie Paris Hilton die Plattform ausprobierten, hat ein Gewöhnungs-, ja Langeweileffekt eingesetzt. Die endlosen Freak- und Penisparaden wirken für viele Internetnutzer inzwischen so attraktiv wie der Besuch eines heruntergekommenen Tabledance-Lokals in Bahnhofsnähe.

Im Mai gingen die Chatroulette-Zugriffszahlen nach Angaben des US-Marktforschungsinstitut Comscore erstmals zurück - ein schlechtes Zeichen für eine Plattform, die erst seit kurzer Zeit einer breiteren Öffentlichkeit bekannt ist. Ternowskijs derzeitige Mission, in den USA Investoren für seine Seite zu finden, dürfte die Mischung aus Schmuddel-Image und unsicherer Reichweitenentwicklung nicht gerade vereinfachen.

13 Prozent der Nutzer zeigen alles

Laut einer Untersuchung des Internet-Analyseunternehmens RJMetrics vom März sind 89 Prozent aller Chatroulette-Nutzer männlich, etwa 13 Prozent der Videochatter begeben sich auf die Plattform, um ihr Geschlechtsorgan zu präsentieren.

Um gegen die Penisparade vorzugehen, gibt es inzwischen einen Beschwerdeknopf für "unangebrachte Inhalte". Sobald drei Meldungen über einen Nutzer eingehen, wird er für 40 Minuten geblockt. Auch eine Filtersoftware, die Penisse automatisch ausblendet, ist geplant. "Menschen sind überall im Internet nackt", sagte Ternowskij der New York Times, "Ich mag das nicht, weil ich eine saubere Seite haben möchte."

Ein weiterer Schritt zur Zähmung besteht darin, das Zufallsprinzip künftig etwas abzuschwächen: So bietet Chatroulette seit kurzem an, Chatter in der näheren Umgebung zu finden. Interessenkanäle sollen Gleichgesinnte zusammenbringen - wenig überraschend finden sich die meisten Nutzer unter dem Stichwort "Sex", auch die nächsten Plätze werden von schlüpfrigen Begriffen dominiert.

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Eine seriösere Variante der Videochatseite anzubieten, könnte sich für Ternowskij finanziell auszahlen: Weil sein Geschäftsmodell auf Werbeeinblendungen basiert, kann er zahlungskräftige Unternehmenskampagnen nur dann an Land ziehen, wenn das Umfeld stimmt.

Gleichzeitig ist immer wieder von einem möglichen Verkauf der Plattform die Rede: Neben der russischen Investorengruppe DST, die bereits einen kleinen Anteil an Facebook besitzt, soll auch der aufstrebende Online-Spielehersteller Zynga Interesse bekundet haben. Als Macher von harmlosen Bürospielen wie Farmville dürfte das Unternehmen jedoch kein Interesse daran haben, eine Plattform von zweifelhaftem Ruf zu übernehmen.

Eventuell könnte sich das Problem des Exhibitionismus jedoch bald ganz von selbst erledigen. Über Software zur Netzwerkprotokollanalyse können Nutzer die IP-Adresse ihres Chatpartners herausfinden. Das Resultat ist auf der Seite Chatroulettemap zu sehen: Dort sind Webcam-Screenshots von Videochattern deren Herkunftsorten zugeordnet.

Vorgetäuschte Anonymität

Weil zudem immer mehr YouTube-Videos auftauchen, in denen Chatter bloßgestellt werden, entpuppt sich die vermeintliche Anonymität der Teilnehmer beim zweiten Hinsehen als Mär.

Kann Chatroulette funktionieren, wenn sich Nutzer nicht mehr sicher sein können, von der breiteren Öffentlichkeit unbeobachtet zu sein? Und ist der 17-jährige Ternowskij mit seinem fünfköpfigen Team dazu in der Lage, die Plattform für ein Mainstream-Publikum attraktiv zu machen?

Längst nutzen auch andere Dienste das Zufallsprinzip: Die iPhone-Applikation iChatr verbindet unbekannte Smartphone-Nutzer mobil per Videotelefonie miteinander, Phoneroulette überträgt die Chatroulette-Philosophie auf das Telefon.

Wenn die kalten Tage wiederkehren, könnte sich das Hype-Portal des vergangenen Winters bereits auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit befinden.

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