Cebit-Partnerland Polen:"Die Zukunft ist sicher, wenn man sie selbst gestaltet"

Sozialismus und Planwirtschaft kennen die neuen polnischen IT-Unternehmer nur aus Erzählungen. Statt eine Festanstellung zu suchen, gestalten sie selbst ihre Geschäftsidee - und hoffen auf einen Durchbruch, wie es Skype in Schweden gelang.

Von Anna Schmid, Warschau

Der Reaktor ist ein Einfamilienhaus mit weißen Mauern und spitzem Dach. Nicht weit davon entfernt liegen ein Park und Cafés mit Tischen unter schattigen Markisen. Hier, im bürgerlichen Viertel Zoliborz, schlägt das Herz der Warschauer Start-up-Szene. Borys Musielak, 32, lehnt im Türrahmen. Er trägt schlabbrige Hosen und T-Shirt, sein Kinnbärtchen und die Strubbelfrisur lassen ihn jünger wirken. 2011 hat er mit Freunden den Reaktor gegründet. Hier können Unternehmer und Freiberufler für 600 Zloty im Monat, umgerechnet etwa 150 Euro, einen Arbeitsplatz mieten und, vielleicht ebenso wichtig, Gleichgesinnte treffen. Etwa 30 Leute kommen regelmäßig her, die meisten aus der Internetbranche. Auch seine eigene Firma filmaster.pl mit zehn Leuten führt Musielak vom Reaktor aus. Das Portal empfiehlt Kunden Filme, weiß, in welchem Kino sie laufen und bringt die Cineasten in der analogen Welt zusammen.

In Polen gründen immer mehr junge Leute, die keine Lust auf eine Festanstellung in einem großen Unternehmen haben, ihre eigene Firma - in Warschau, aber auch in Krakau, Posen und Stettin. Bis vor kurzem träumten viele junge Polen noch davon, für eine Bank oder einen Konzern wie Google oder IBM zu arbeiten. Die meisten von Musielaks Studienfreunden arbeiten heute in großen Telekommunikations- oder Softwareunternehmen. Sie verdienen mehr Geld, ihr Leben ist nicht so stressig wie seines - aber eben auch nur halb so aufregend, sagt Musielak.

Auf den Durchbruch einer Idee aus der Start-up-Szene warten sie in Polen zwar noch; auf so etwas wie den Internettelefondienst Skype, der in Schweden entwickelt wurde und in ganz Skandinavien als Beleg dafür gilt, dass auch fernab des kalifornischen Silicon Valley Großes entstehen kann. Doch kleinere Erfolge, sagt Musielak, die gebe es durchaus. So wie den des Warschauer Start-ups Showroom. Auf dessen Internetseite verkaufen polnische Nachwuchsdesigner ihre Kollektion. Im Herbst hat das Medienunternehmen Burda 25 Prozent der Firma übernommen. Geschichten wie diese inspirierten junge Leute, es selbst zu versuchen, sagt Musielak.

Riskantes Geschäft

"Ein Gründer muss sich im Klaren sein, dass es keine Sicherheit gibt", sagt er. Und er muss damit leben, dass die Eltern nicht begreifen, warum ihr Kind solch ein riskantes Geschäft eingeht, statt ein gutes Gehalt in Festanstellung anzunehmen. Musielaks eigene Eltern versuchen gerade, ihn zu verstehen: Um zu sehen was er macht, ist seine Mutter jetzt sogar auf Twitter. Die digitale Revolution hat das Leben und die Arbeit junger Menschen überall in Europa verändert.

Doch zwischen jungen Polen und ihren Eltern liegt noch ein zweiter Umsturz: Den Sozialismus vergangener Zeiten kennen die um die 30-Jährigen heute allenfalls aus der frühen Kindheit, zumeist nur aus Erzählungen. In die "Warteschlange" reihen sie sich nur noch im gleichnamigen Brettspiel ein, in dem es darum geht, Waren des täglichen Bedarfs durch geschicktes Anstellen zu ergattern. Wenn Musielak erzählt, dass er 24 Stunden am Tag arbeitet, weil er noch nachts von seiner Arbeit träumt und wenn er dabei strahlt, weil es sein Projekt ist, seine Leidenschaft und sein Erfolg, dann wird klar, wie weit seine Generation sich entfernt hat von der Zeit der Planwirtschaft, in der Ehrgeiz keine Rolle spielte.

Sein Unternehmen gründete er 2009 mit Geld aus dem Regionalfonds der Europäischen Union und des deutschen Investors HackFwd, hinter dem Xing-Gründer Lars Hinrichs steht. Davor arbeitete er als Entwickler und Berater in Polen, Deutschland und England. Seinen letzten Job als IT-Berater bei einer Bank in London hat er seiner eigenen Firma zuliebe aufgegeben.

Polen gilt heute als Europas Land des Booms, das lange verschont blieb von der Schuldenkrise im Euroraum. Den Marktforschern von Forrester zufolge wuchs der polnische IT-Markt im vergangenen Jahr um 2,6 Prozent; 2013 wird er voraussichtlich um 3,2 Prozent zulegen. Die polnische Gesellschaft ist jung und gut ausgebildet. Der Altersdurchschnitt liegt bei 38,8 Jahren, in Deutschland sind es 45,3 Jahre. Und fast jeder zweite junge Pole hat einen Hochschulabschluss. Polens Entwickler sind weltweit ganz oben mit dabei.

EU-Fördergelder helfen weiter

"In Polen hat es schon immer ausgezeichnete Entwickler gegeben. Technisch können die Leute viel. Aber ihnen fehlt die Fähigkeit, ein erfolgreiches Geschäft aufzuziehen, das können polnische Unternehmer von Deutschland lernen", sagt Gründer Michal Lyczek. Eine gute Firma brauche nicht nur ein gutes Produkt, sondern auch gutes Marketing und gute Mitarbeiterführung. Lyczek frühstückt mit Kollegen an der Bar in der Mobilesuite, die so etwas wie der Reaktor in Warschau ist - nur etwa 500 Kilometer Luftlinie entfernt, in Berlin, Prenzlauer Berg.

Hinter der großen Schaufensterscheibe spazieren Jutebeutel tragende Mädchen in engen Hosen und Jungs mit Hornbrille und Vollbart über die Pappelallee. Lyczek hat mit zwei Kollegen in Warschau die App Substance entwickelt. Damit lässt sich eine schlampig per Kuli auf Papier gekritzelte Skizze in ein ordentliches, digitales Arbeitsblatt übertragen. Lange tüftelte der Informatiker im Reaktor, bis auch er im Frühjahr 2012 Geld von HackFwd bekam. Lyczek und sein Team beschlossen, nach Berlin zu gehen. Die deutsche Hauptstadt ist voll von jungen Gründern, so dass man schnell Gleichgesinnte kennenlernt; das passiere schon mal zufällig beim Frisbeespielen im Park.

Neues Selbstbewusstsein

In Deutschland hat sich Berlin zum Zentrum der Start-up-Szene entwickelt. Die polnische Szene dagegen verteile sich über das ganze Land, sagt Pawel Chudzinski, Geschäftsführer des Berliner Venture-Capital-Investors Point Nine Capital. In Berlin sind die Wege kurz, man kennt sich, man hilft sich. Das sei in Polen nicht so einfach, auch wenn es manche, wie etwa Gründer Lyczek, durchaus schätzen, dass die Ellenbogen in der polnischen Szene noch nicht ganz so heftig ausgefahren werden. Ohne seine polnischen Freunde und Kollegen hätte er es nicht so weit gebracht, sagt er. Und dank der EU-Fördergelder für Polen sei es leicht, an Geld zu kommen.

Die EU habe den polnischen Unternehmern neues Selbstbewusstsein gegeben, sagt Pawel Chudzinski. Sein deutsch-polnisches Team investiert in kleine Internetfirmen und berät sie bei ihrer Entwicklung. Ähnlich wie Deutschland sei Polen zwar groß genug, damit ein Unternehmer dort ein solides Geschäft aufbauen kann, von dem er und ein paar Angestellt leben können, aber doch zu klein, um ein ganz großes Geschäft daraus zu machen. "Der EU-Beitritt hat den Leuten den Mut gegeben, über die polnische Grenze zu schauen. Die Polen haben angefangen, mit dem Ausland zu konkurrieren und nicht nur für sich selbst Projekte zu machen. Und je besser die Liga, in der man spielt, desto besser werden die Spieler."

Mittlerweile kommt die Krise jedoch auch in Polen an. Der Rezession wird das Land Experten zufolge zwar entgehen; der Wirtschaftsboom an der Weichsel aber erlebt einen Dämpfer. Vor allem unter jungen Leuten ist die Arbeitslosigkeit hoch, jeder zweite Pole ohne Job ist jünger als 35. Auch diese Erfahrung hat bei jungen Polen zum Umdenken geführt, sagt Chudzinski. Sie merken, dass auch ein Job bei einer großen Firma nicht mehr sicher ist. Sie nehmen ihre Karriere selbst in die Hand: "Die Zukunft ist nur sicher, wenn man sie selbst gestaltet."

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