Brutalist Websites:Das Internet soll hässlicher werden

Brutalist Websites

Brutalist-Webseite allheels.it

(Foto: Screenshot allheels.it)

Das Web ist voller makellos designter Seiten. Eine neue Bewegung sammelt Gegenbeispiele und feiert das herrlich unperfekte 90er-Jahre-Netz.

Von Michael Moorstedt

Es ist schon erstaunlich, was heutzutage alles als kulturelle Leistung durchgeht. Manchmal reicht es schon, eine hässliche Website zu programmieren. Im Zeitalter der stromlinienförmigen Benutzeroberfläche von Facebook und der auf feines Retro getrimmten Notizbuch-Programme von Apple formiert sich momentan eine Bewegung von Designern und Nutzern, die sich nach ehrlichem, von Hand geschriebenem HTML-Code sehnt anstatt nach austauschbaren Designvorlagen.

Web-Brutalismus nennt der Schweizer Designer Pascal Deville diesen Trend, in Anlehnung an die Architektur der 1970erJahre, und sammelt auf brutalistwebsites.com Hunderte Beispiele. Statt rauer Betonflächen sind grelle Farben und ein halbes Dutzend verschiedener Schriftarten bezeichnend, gerne viel Weißraum und grob behauene Formatierungen.

Das hässliche Web war das ehrlichere Web

Doch der Fangemeinde geht es nicht nur um das Aussehen der Webseiten, sondern auch um ein Gefühl. Die von Deville kuratierten Seiten oder andere Designprojekte wie 1080plus.com oder "One terabyte of kilobyte Age" wirken beinahe schon heilsam chaotisch. War das hässliche handgemachte Web von früher nicht auch irgendwie ein ehrlicheres Web? Hatte man nicht die Ahnung, das hinter jedem ungeklickten Link eine neue, andere Welt stecken könnte, anstatt doch nur wieder Statuszeilen, Profilbilder und Newsfeeds?

Wie so oft ist die Ästhetisierung des Unperfekten nur Ausdruck eines ganz realen Wunsches nach weniger Kontrolle und Regulierung. Schon seit Jahren befinden sich unsere Daten in der komfortablen Geiselhaft von Google und Facebook. Durch Programmierschnittstellen breiten sich deren Gefällt-mir- und Kauf-ich-Buttons quer über das übrig gebliebene Internet aus. Auch wo nicht Facebook draufsteht, ist Facebook drin.

Seit 1997 verhallen die Appelle wirkungslos

Auch deshalb trafen sich Ende Juni eine ganze Menge alter Männer in einer aufgelassenen Kirche in San Francisco zum Decentralized Web Summit. Hier ist das Internet Archive zu Hause, und auf Einladung von dessen Gründer Brewster Kahle wurde darüber nachgedacht, wie man "das Internet aufsperren" könnte. Vint Cerf und Tim Berners-Lee waren unter den Gästen, sie haben Internet und World Wide Web überhaupt erst möglich gemacht. Gemeinsam mit jungen Programmierern suchten sie nach Lösungen für ein Netz, in dem die Daten nicht nur auf den Servern der Megakonzerne gespeichert sind, sondern der Rechner eines jeden Nutzers zum Kommunikationsknotenpunkt werden kann.

Unbeantwortet blieb nur die Frage, wie man die Nutzer weg vom komfortablen Status quo hin zur unbequemen Unabhängigkeit treiben kann. Schließlich hieß es schon 1997 im sogenannten Indie-Web-Manifest: "Wir fordern die Benutzer dazu auf, sich ihrer wesentlichen Rolle im Internet bewusst zu werden: Wenn sie ihre eigene Site aufbauen, wenn sie sich in den Diskussionsgruppen und per E-Mail gegenseitig helfen, bieten sie jene Informationen frei und kostenlos an, die andere kontrollieren und verkaufen wollen." Geschehen ist seitdem nichts.

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