Süddeutsche Zeitung

Big Data:Prinzipiell wertneutral

Angewandte Mathematik hat Nutzen und Risiken. Wer die Herrschaft der Algorithmen pauschal verteufelt, der macht es sich zu einfach. Algorithmen sind nichts Geheimnisvolles.

Ein Gastbeitrag von Ulrich Trottenberg

Noch vor wenigen Jahren wurde ich meist verständnislos angesehen, wenn ich mich als Leiter eines "Institutes für Algorithmen" vorstellte. Heute hingegen sind Algorithmen in aller Munde. Zwar ist es gewiss erfreulich, wenn ein Begriff der - sonst noch immer so wenig geliebten - Mathematik (und Informatik) in das öffentliche Bewusstsein, in die Umgangssprache übergeht. Problematisch aber wird es, wenn der Begriff durch Missverständnisse in seiner Bedeutung verzerrt und irrational überladen wird. "Wir werden von Algorithmen beherrscht", "Ist er besser als wir?" - so lauten heute die Überschriften.

Algorithmen sind eindeutige, aus endlich vielen Schritten bestehende Verfahrens- oder Handlungsvorschriften zur Lösung eines mathematisch formulierten Problems. Das vielleicht älteste Beispiel ist der aus der Schule bekannte, 2300 Jahre alte euklidische Algorithmus zur Berechnung des größten gemeinsamen Teilers zweier natürlicher Zahlen. Wird ein Algorithmus in einer Programmiersprache formuliert, entsteht ein auf einem Computer ausführbares Programm. Jedes Stück Software, aber auch die größten Softwaresysteme setzen sich aus Algorithmen zusammen. Algorithmen können auch direkt in Hardware realisiert werden.

Algorithmen sind nichts Geheimnisvolles. MP3, GPS zur Navigation, die Reihenfolge der Treffer in Suchmaschinen (Page Ranking), die Chipkarten-Verschlüsselung - das sind Beispiele für Algorithmen, die wir täglich benutzen, ohne dass sie uns in Angst und Schrecken versetzen. Die mathematischen Prinzipien dieser Algorithmen können mit großem Erfolg im Schulunterricht behandelt werden; dies weckt bei den Schülern wegen der Alltagsnähe deutlich mehr Interesse und Begeisterung für Mathematik als zum Beispiel langwierige, praxisferne Kurvendiskussionen.

Zunächst ist die Unterscheidung von mathematischer Modellierung und Algorithmik wesentlich. Angewandte Mathematik entwickelt mathematische Modelle zur Beschreibung, Optimierung und/oder Prognose realer technisch-naturwissenschaftlicher Phänomene und Prozesse, aber auch wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, medizinischer oder psychologischer Vorgänge und Entwicklungen. Um diese Modelle auf einem Computer auszuwerten, bedarf es entsprechender Algorithmen. Modellierung und zugehörige Algorithmik werden oft mit dem Begriff der numerischen Simulation zusammengefasst.

Das Schlagwort "Big Data" dagegen beschreibt den direkten Zugriff, die gezielte Auswertung und Analyse, die automatische Extraktion von Information und Wissen aus riesigen strukturierten oder unstrukturierten Datenmengen, etwa des Internets. Auch die "Big Data"-Analyse beruht auf Algorithmen, die auf hochleistungsfähigen Computern ausgeführt werden.

Algorithmen sind mathematische Werkzeuge. Wie die Mathematik als Ganzes, so sind auch Algorithmen prinzipiell wertneutral. Es ist für Studierende der numerischen Optimierung immer wieder faszinierend zu sehen, dass das exakt gleiche mathematische Modell und der gleiche Algorithmus für die optimale Versorgung einer notleidenden Bevölkerung in Regionen, die von Hunger und Katastrophen betroffen sind, und für die Schadensmaximierung durch Luftangriffe bei militärischen Auseinandersetzungen verwendet werden kann. So gibt es für viele der aktuellen Algorithmen multiple Anwendungsmöglichkeiten: Bilderkennungsalgorithmen kann man zum Beispiel zur Identifikation von Krebszellen oder für das Auffinden von gesuchten Personen in Menschenansammlungen einsetzen.

In Naturwissenschaft und Technik ist die Modellierung und Algorithmik unbestreitbar exakt und erfolgreich. Sie ist heute ein fundamentales Werkzeug insbesondere für die naturwissenschaftliche Erkenntnisgewinnung und für praktisch alle technischen Entwicklungen; numerische Simulation ist die dritte methodische Säule neben Theorie und Experiment. Die Wettervorhersage ist ein Beispiel für die großen Fortschritte in Modellierung und Algorithmik, bei einem Phänomen, das wegen seines chaotischen Charakters nur begrenzt prognostiziert werden kann.

In Anwendungsbereichen, in denen die Modelle noch unausgereift, ungenau oder sogar falsch sind, helfen noch so ausgeklügelte Algorithmen allerdings nicht weiter. Beispiele für Grenzen und Probleme der Modellierung aus den letzten Jahren sind etwa der überaus tragische Verlauf der Loveparade in Duisburg, die anfänglichen Fehleinschätzungen bei der "Aschewolke" oder die immer noch vorhandenen quantitativen Unsicherheiten bei der langfristigen Klimaprognose.

Ins Gerede gekommen sind Algorithmen aber eher im Kontext von Big Data, Cloud Computing und dem "Internet der Dinge" - insbesondere durch die NSA-Affäre. Die Algorithmen, die hier verwendet werden, sind teilweise hochspezialisiert, im Übrigen aber, was ihre mathematische Substanz im Vergleich zu den Algorithmen der numerischen Simulation angeht, heute noch relativ simpel. Die großen Erfolge, die mit diesen Algorithmen erzielt werden und mit ihren Weiterentwicklungen noch zu erwarten sind, liegen in der unermesslichen, immer weiter wachsenden Datenfülle, die für die Analyse zur Verfügung steht. Den Erfolgen und noch unübersehbaren zukünftigen Möglichkeiten dieser Methoden stehen allerdings Gefahren gegenüber - diese bestehen unter anderem im uneingeschränkten Zugriff auf riesige Mengen persönlicher Daten, in der Erkennung und Durchleuchtung individueller Persönlichkeitsprofile, im potenziellen Missbrauch von personenbezogenen medizinischen Daten - und ganz generell in der beherrschenden Marktmacht einiger weniger Firmen wie Google.

Automatische und individuelle Verschlüsselungsalgorithmen sind ein noch zu wenig genutzter Weg zum Schutz persönlicher Daten. Die mit Big Data und anderen Anwendungen verbundenen fundamentalen ethischen und rechtlichen Probleme, der Schutz der Persönlichkeitsrechte, die Datenschutzfragen allgemein, sind allerdings äußerst komplex. Nur in einem Zusammenspiel von (internationaler) Politik, Gesetzgebung und Gesellschaft können und müssen diese Fragen bearbeitet und gelöst werden, und zwar - wegen der ständigen technischen Weiterentwicklung - unbedingt unter Einbeziehung der technischen und insbesondere der algorithmischen Experten, welche die derzeitigen und zukünftigen Entwicklungen realistisch einschätzen können.

Ulrich Trottenberg ist Geschäftsführer der Beratungsfirma InterScience. Bis 2012 war er Professor für Mathematik an der Universität Köln und leitete das Fraunhofer-Institut für Algorithmen und Wissenschaftliches Rechnen (SCAI) in Sankt Augustin.

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Quelle:
SZ vom 05.08.2014/pauk
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