Auseinandersetzung um Stuttgart 21:Digitale Menschenketten und verbale Wasserwerfer

Krieg um das Bahn-Projekt Stuttgart 21. Nach dem Schlagstockeinsatz der Polizei haben sich die Lager verhärtet - vor Ort, aber auch im Netz. Wie reagieren die Nutzer von sueddeutsche.de?

Daniel Wüllner

Die Polizei setzte vergangenen Donnerstag im Stuttgarter Schlossgarten Wasserwerfer gegen Demonstranten ein. Die Situation eskalierte. Unterdessen stellte der Leser Emil Pohl im Kommentarbereich von sueddeutsche.de die nüchterne Frage in die Runde: "Richtig oder falsch?" Es folgte eine sachliche Interpretation der Fakten - für und wider Stuttgart 21 - mit Begriffen wie Demokratieverständnis, Kostensteigerung und Denkmalschutz.

Stuttgart 21 - Bewachter Bauzaun

Bewachter Bauzaun: Ein Blatt Papier mit der Aufschrift 'Wo rohe Kräfte sinnlos walten' hängt am Montag im Schlossgarten in Stuttgart an dem Bauzaun zum Baugelände für das umstrittene Bauprojekt Stuttgart 21.

(Foto: dpa)

Beinahe resignierend endete seine Schilderung: "Warum setzen die Regierenden in BW nur auf Wasserwerfer, Schlagstöcke, Augenverätzungen und nicht auf eine konstruktive Behandlung der Proteste durch ergebnisoffene Gespräche?" Die Möglichkeit solcher Gespräche scheint nun immer unrealistischer.

Seit Wochen tauschen User auf sueddeutsche.de zum Thema Stuttgart 21 friedlich Fakten aus oder vertreten lautstark ihre Meinungen. Sowohl Projektgegner als auch Befürworter bringen ihre Argumente in Stellung. Zeitgleich zu der Eskalation im Stuttgarter Schlossgarten entladen sich viele der aufgestauten Emotionen. Theoretische Modelle werden von aggressiven Anfeindungen abgelöst. Die Leser sind außer sich und versuchen, ihre Gefühle in Worte zu fassen.

Im Netz, fernab vom Schlossgarten, ist man sich unsicher, was am Mittag des 30. September genau passiert war. So eindeutig, wie sich die Eskalation auf den Fotos und Fernsehbildern darstellt, ist die Situation für die Nutzer nicht. Erst sollen Steine geflogen sein, dann waren es nur Kastanien, die ein paar Schüler auf Polizisten warfen. Eine angemeldete Schülerdemonstration stand der Polizei im Weg.

Die Wut der Betroffenen

Der Leser Ya_Basta meint dazu: "Selbst die Polizei spricht nur von Pfiffen, Buhrufen, Farbbeuteln und ein paar zerstochene Reifen an Polizeiautos ... Verhältnismäßigkeit der Mittel sieht anders aus." Ob der Einsatz von Wasserwerfern verhältnismäßig war, sollte Innenminister Rech später selbst erläutern. Interessant ist hingegen, dass kurze Zeit später auch digital die ersten Kastanien fliegen: "@Ya_Basta Ich würde mir von einem verblendeten Zukunftsverweigerer keinen Farbbeutel ins Gesicht werfen lassen ..." schreibt Guhvieh. Ebenso wie die Stimmung im Schlossgarten entlädt sich auch unter den Artikeln auf sueddeutsche.de die Wut der Betroffenen.

Während man auf der einen Seite unterstellt, "Kinder als lebende Schutzschilde" zu nutzen, dient die Kommentarfunktion anderen Usern als Austauschplattform, um die Kette der Information nicht abreißen zu lassen. Es werden Links zu Bildern, You Tube-Videos und live-streams ausgetauscht: "@queenb61 Ich habe es nirgendwo gelesen, sondern diesem SWR-Beitrag von gestern Abend entnommen ..." Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten "@Flywheel Danke für den Link!". Das Gemeinschaftsgefühl der digitalen Demonstranten wächst.

Je mehr neue Informationen aus Stuttgart durchsickern, desto lauter wird es im Kommentarbereich. Wie auch im Schlossgarten hört man im Internet häufig nur die Pro-Gröler und die Kontra-Krakeeler. Ganz leise vernimmt man allerdings auch besonnene Stimmen, die zur Räson aufrufen, nach Antworten suchen oder einfach nur interessierte Fragen stellen. Doch nur selten gelingt der digitale Austausch zwischen Pro und Contra.

Leser Guennihd will von seinem Gegenüber Brado wissen: "Warum sind Sie für Stuttgart 21? Ich würde gerne Ihre Meinung dazu hören oder besser gesagt lesen!" Die Antwort lautet: "Ich bin dafür, weil dies für die Zukunft unseres Landes wichtig ist. Wir werden ein zentrales Drehkreuz in Europa." Plötzlich stehen sich zwei Menschen im virtuellen Raum gegenüber und hören sich zu, nur um im nächsten Moment von neuen Informationen überrollt zu werden.

Gespannt lauscht man den Erläuterungsversuchen von Innenminister Rech. Obwohl Baden-Württembergs Innenminister nicht die Metapher der "menschlichen Schutzschilde" benutzt, liegen die S21-Befürworter im Netz mit ihm auf einer Linie. Der User "Wir weisen den Weg" kommentiert die Aussagen: "Herr Rech benutzt genau dieselben Sprachregelungen, wie sie auch hier von Kommentatoren getätigt werden ..."

Die letzten Worte in Sachen Stuttgart 21 sind noch nicht gesprochen. Doch während man sich im realen Leben mit Schlagstöcken und Wasserwerfern gegenübersteht, bietet das Internet noch immer die Möglichkeit eines ergebnisoffenen Gesprächs.

Das beweist nicht zuletzt Leser Svensk: "Ich rate zur Mäßigung. Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob es jetzt noch um ein konkretes Objekt geht oder nur noch um das Prinzip. Und zwar auf beiden Seiten. Ich kenne das Stuttgarter Projekt nicht. Ich kenne weder den Bahnhof, noch kenne ich die Verkehrspolitik. Aber von außen betrachtet erscheint es mir so, dass nun beide Seiten mit Gewalt ihre Forderungen durchsetzen wollen. Und dabei verlieren beide ihr Gesicht."

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