Es waren die ersten Tage des Arabischen Frühlings im Jahr 2011, als sich das Internet gegen Wael Ghonim richtete. Genauer gesagt, war es zunächst der Sicherheitsapparat des ägyptischen Diktators Hosni Mubarak. Wie sie ihn gefunden hatten, weiß Ghonim bis heute nicht. Aber als die Zivilbeamten ihn abholten und in einer Zelle verschwinden ließen, als Amnesty International nach ihm fahndete und ihn die Demonstranten nach seiner Freilassung auf dem Tahrir-Platz auf die Bühne riefen, wurde aus dem stillen Google-Manager ein sehr öffentlicher Revolutionär. Danach blieb das Netz für die Aufständischen zentrales Werkzeug und Forum. Nur für Ghonim tat sich ein Abgrund der Häme und Verleumdungen auf.
Wael Ghonim erging es wie vielen im Netz - Teenagern, die sich mit ihrer Klasse anlegen, amerikanischen Politikern, die sich gegen Waffen und für Abtreibung engagieren, deutschen Journalisten, die sich in die Flüchtlingsdebatte einmischen. Die Hetzer behaupteten, er sei ein Freimaurer, ein Zionist, ein Agent der CIA, sie unterstellten ihm Missetaten und Verrat. Das "toxische Web" nennt er dieses giftige Netz, das seine Opfer selten wieder freigibt und wenn, dann nie ohne Schaden. Wer genau ihm dies antat, lässt er offen. Wahrscheinlich jagte ihn ein Schwarmgeist durch die Netzwerke, der von der gefallenen Diktatur seines Heimatlandes getrieben wurde.
Von Ägypten nach Dubai in Silicon Valley
Ägypten verließ Ghonim bald wieder, denn in Systemen wie diesen kann Hetze im Netz sehr viel gefährlichere Folgen haben als Cybermobbing in einer Demokratie. Erst kehrte er nach Dubai zurück, wo er für Google arbeitete. Dann zog er nach Kalifornien. Dort lebt er seit zwei Jahren mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Palo Alto, jener Gemeinde, die im Silicon Valley zwischen Google, Facebook und der Stanford University liegt.
Dort gehört er zu jenen ungezählten jungen Unternehmern, die darauf hoffen, dass das, was sie sich in den klimatisierten pastellfarbenen Bürozeilen des Tals ausdenken und in Code umsetzen, weltweit digitale Fahrt aufnimmt, dass es sie reich und vielleicht berühmt macht.
Parlio nennt sich sein Projekt, das er gemeinsam mit zwei Partnern Anfang des Jahres ins Web gestellt hat - ein soziales Netzwerk für den zivilisierten Dialog und den fundierten Austausch. Das klingt idealistisch, fast schon romantisch, aber im Silicon Valley kann man alles quantifizieren, auch den Idealismus.
Parlio war eine Utopie - und wird gerade Realität
Demnach bewegt sich Parlio auf der nach oben offenen Utopieskala seit Anfang des Jahres stetig ins Realismus-Perzentil. Wesley Chan und Georges Harik aus der Gründungsmannschaft von Google haben in Parlio investiert, Marissa Mayer von Yahoo, Gordon Crovitz, der frühere Herausgeber des Wall Street Journal.
Wie viele sich auch auf Facebook empörten - für den Sturz des Regimes brauchte es die realen Proteste auf dem Tahrir-Platz.
(Foto: Amr Abdallah Dalsh/Reuters)Mindestens so aufschlussreich ist die Liste der Namen, die den zivilisierten Dialog auf Parlio in diesem Sommer bereits aufgenommen haben. Angefangen hatte es mit dem Harvard-Professor Steven Pinker, der sich als Erster für eines der offenen Foren zur Verfügung stellte, in denen die Mitglieder von Parlio einer Koryphäe Fragen stellen können. Sein Grundlagenwerk zur Geschichte der Gewalt wurde da in allen Aspekten diskutiert.
Auf Pinker folgten der New-York-Times-Kolumnist Tom Friedman, der Linguist und linke Aktivist Noam Chomsky, der Politologe Francis Fukuyama und Anne-Marie Slaughter, ehemalige Hillary-Clinton-Beraterin und Stimme eines neuen Feminismus. Es waren große Namen der amerikanischen Debatten, die ein gewichtiges Netzwerk bilden.
Die Debatte über den Tonfall im Netz tobt nicht nur in Deutschland
Vor allem die derzeitige Diskussion um den Ton im Netz könnte Parlio zum Erfolg verhelfen, denn das Gespür für den richtigen Zeitpunkt ist im Silicon Valley oft wichtiger als das Produkt selbst. In den USA gibt es ganze Regalreihen von Büchern zum Thema, und für den anstehenden Wahlkampf streiten sich die Kandidaten gerade um die Experten für soziale Netzwerke. In Deutschland geht die Debatte noch weiter, hier hat sie bereits die Ebene des Justizministers erreicht. Dieser versucht im Auftrag der Kanzlerin gerade , die vergifteten Online-Diskurse wieder in zivilisierte Bahnen zu lenken.
Alles dies sei der Grund, warum das Netzwerk der prominenten Stimmen so bereitwillig bei Parlio mitmache, sagt Ghonim. Die Klugen und Überlegten hätten sich ja gerade aus dem Netz zurückgezogen, weil sich in den vergangenen Jahren die "Signal to Noise Ratio" im Internet so ungünstig verschoben habe. Damit beschreibt er das Verhältnis von fundierten Stimmen zum allgemeinen Lärm. Und die fundierten Stimmen finden derzeit im Netz kaum ein Forum.