Arabischer Frühling:Ein soziales Netzwerk ohne Hass und Hetze

Google Inc executive Wael Ghonim addresses a mass crowd  insideTahrir Square in Cairo

Verhaftet, freigelassen, gefeiert: Wael Ghonim im Februar 2011 auf der Bühne des Tahrir-Platzes in Kairo.

(Foto: Dylan Martinez/Reuters)
  • Der Google-Mitarbeiter Wael Ghonim wurde während des Arabischen Frühlings zum Gesicht der Revolution.
  • Nach dem Aufstand zog er ins Silicon Valley und gründete Parlio.
  • Das Projekt soll ein soziales Netzwerk für den zivilisierten Dialog und den fundierten Austausch im Netz sein.

Von Andrian Kreye

Es waren die ersten Tage des Arabischen Frühlings im Jahr 2011, als sich das Internet gegen Wael Ghonim richtete. Genauer gesagt, war es zunächst der Sicherheitsapparat des ägyptischen Diktators Hosni Mubarak. Wie sie ihn gefunden hatten, weiß Ghonim bis heute nicht. Aber als die Zivilbeamten ihn abholten und in einer Zelle verschwinden ließen, als Amnesty International nach ihm fahndete und ihn die Demonstranten nach seiner Freilassung auf dem Tahrir-Platz auf die Bühne riefen, wurde aus dem stillen Google-Manager ein sehr öffentlicher Revolutionär. Danach blieb das Netz für die Aufständischen zentrales Werkzeug und Forum. Nur für Ghonim tat sich ein Abgrund der Häme und Verleumdungen auf.

Wael Ghonim erging es wie vielen im Netz - Teenagern, die sich mit ihrer Klasse anlegen, amerikanischen Politikern, die sich gegen Waffen und für Abtreibung engagieren, deutschen Journalisten, die sich in die Flüchtlingsdebatte einmischen. Die Hetzer behaupteten, er sei ein Freimaurer, ein Zionist, ein Agent der CIA, sie unterstellten ihm Missetaten und Verrat. Das "toxische Web" nennt er dieses giftige Netz, das seine Opfer selten wieder freigibt und wenn, dann nie ohne Schaden. Wer genau ihm dies antat, lässt er offen. Wahrscheinlich jagte ihn ein Schwarmgeist durch die Netzwerke, der von der gefallenen Diktatur seines Heimatlandes getrieben wurde.

Von Ägypten nach Dubai in Silicon Valley

Ägypten verließ Ghonim bald wieder, denn in Systemen wie diesen kann Hetze im Netz sehr viel gefährlichere Folgen haben als Cybermobbing in einer Demokratie. Erst kehrte er nach Dubai zurück, wo er für Google arbeitete. Dann zog er nach Kalifornien. Dort lebt er seit zwei Jahren mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Palo Alto, jener Gemeinde, die im Silicon Valley zwischen Google, Facebook und der Stanford University liegt.

Dort gehört er zu jenen ungezählten jungen Unternehmern, die darauf hoffen, dass das, was sie sich in den klimatisierten pastellfarbenen Bürozeilen des Tals ausdenken und in Code umsetzen, weltweit digitale Fahrt aufnimmt, dass es sie reich und vielleicht berühmt macht.

Parlio nennt sich sein Projekt, das er gemeinsam mit zwei Partnern Anfang des Jahres ins Web gestellt hat - ein soziales Netzwerk für den zivilisierten Dialog und den fundierten Austausch. Das klingt idealistisch, fast schon romantisch, aber im Silicon Valley kann man alles quantifizieren, auch den Idealismus.

Parlio war eine Utopie - und wird gerade Realität

Demnach bewegt sich Parlio auf der nach oben offenen Utopieskala seit Anfang des Jahres stetig ins Realismus-Perzentil. Wesley Chan und Georges Harik aus der Gründungsmannschaft von Google haben in Parlio investiert, Marissa Mayer von Yahoo, Gordon Crovitz, der frühere Herausgeber des Wall Street Journal.

Anti-government protesters in Cairo's Tahrir Square listen as President Hosni Mubarak speaks to the nation

Wie viele sich auch auf Facebook empörten - für den Sturz des Regimes brauchte es die realen Proteste auf dem Tahrir-Platz.

(Foto: Amr Abdallah Dalsh/Reuters)

Mindestens so aufschlussreich ist die Liste der Namen, die den zivilisierten Dialog auf Parlio in diesem Sommer bereits aufgenommen haben. Angefangen hatte es mit dem Harvard-Professor Steven Pinker, der sich als Erster für eines der offenen Foren zur Verfügung stellte, in denen die Mitglieder von Parlio einer Koryphäe Fragen stellen können. Sein Grundlagenwerk zur Geschichte der Gewalt wurde da in allen Aspekten diskutiert.

Auf Pinker folgten der New-York-Times-Kolumnist Tom Friedman, der Linguist und linke Aktivist Noam Chomsky, der Politologe Francis Fukuyama und Anne-Marie Slaughter, ehemalige Hillary-Clinton-Beraterin und Stimme eines neuen Feminismus. Es waren große Namen der amerikanischen Debatten, die ein gewichtiges Netzwerk bilden.

Die Debatte über den Tonfall im Netz tobt nicht nur in Deutschland

Vor allem die derzeitige Diskussion um den Ton im Netz könnte Parlio zum Erfolg verhelfen, denn das Gespür für den richtigen Zeitpunkt ist im Silicon Valley oft wichtiger als das Produkt selbst. In den USA gibt es ganze Regalreihen von Büchern zum Thema, und für den anstehenden Wahlkampf streiten sich die Kandidaten gerade um die Experten für soziale Netzwerke. In Deutschland geht die Debatte noch weiter, hier hat sie bereits die Ebene des Justizministers erreicht. Dieser versucht im Auftrag der Kanzlerin gerade , die vergifteten Online-Diskurse wieder in zivilisierte Bahnen zu lenken.

Alles dies sei der Grund, warum das Netzwerk der prominenten Stimmen so bereitwillig bei Parlio mitmache, sagt Ghonim. Die Klugen und Überlegten hätten sich ja gerade aus dem Netz zurückgezogen, weil sich in den vergangenen Jahren die "Signal to Noise Ratio" im Internet so ungünstig verschoben habe. Damit beschreibt er das Verhältnis von fundierten Stimmen zum allgemeinen Lärm. Und die fundierten Stimmen finden derzeit im Netz kaum ein Forum.

Ghonim hatte einen Vorteil: Er war weltberühmt

Arabischer Frühling: Unternehmen Silicon Valley - das Team von Parlio mit Osman Ahmed Osman, Karim Fateem und Wael Ghonim (v.l.).

Unternehmen Silicon Valley - das Team von Parlio mit Osman Ahmed Osman, Karim Fateem und Wael Ghonim (v.l.).

(Foto: Parlio)

In Dubai hätte er das nicht aufbauen können. In Ägypten schon gar nicht. Aber Ghonims Entschluss, seine Familie aus Dubai nach Kalifornien überzusiedeln, war nicht Angst vor der Verfolgung. "Im Silicon Valley hat man sehr viel direkteren Zugang zu allem, was man für ein Start-up braucht: Finanzierung, Talente, Berater, Mentoren, Erstanwender, die ein Projekt erst zu dem machen, was es sein kann. Die Chancen auf Erfolg steigen hier enorm."

Er hatte ein paar Vorteile. Erstens arbeitete er ja schon in Dubai für Google, besaß also Kontakte, die ihm einen Platz bei Google Ventures vermittelten, einem jener Inkubatoren, in denen Jungunternehmer ihre ersten Ideen entwickeln können. Und dann war er eben weltberühmt.

Wael Ghonim erzählt nicht gerne von der Zeit, die ihn so berühmt machte. So ganz wohl fühlte er sich nie in der Rolle des Revolutionärs, weder auf dem Tahrir-Platz in Kairo noch später, als ihn die Welt mit Ehrungen überhäufte, als er vom Time Magazine zu einer der 100 wichtigsten Persönlichkeiten der Welt gewählt wurde, als ihm John F. Kennedys Tochter Caroline den "JFK Profile in Courage Award" überreichte und sich die amerikanischen und europäischen Medien um ihn rissen. Für sie war er das Gesicht der arabischen Revolution. Weil er eine Figur war, die so gut zu verstehen war - ein Manager bei Google in Dubai, akademisch geschult, eloquent in mehreren Sprachen, höflich.

Ghonim wurde zum Gesicht der vermeintlichen "Social Media Revolution"

Vor allem aber war er das Gesicht einer Revolution, die man im Westen gerne als "Social Media Revolution" etikettierte. Weil man so gerne an die Utopie vom Internet als freiheitlichem Weltgeist und revolutionärer Kraft glauben wollte, weil ein amerikanisches Produkt so viel verständlicher war als der komplexe Volkszorn in einem Land, dessen politische Realitäten man nicht in einer Kurznachricht zusammenfassen kann. Ghonim ist da ganz realistisch, auch wenn seine Autobiografie "Revolution 2.0" trägt. "Das war keine Social Media Revolution. Es war eine Revolution des Volkes", sagt er.

Ursprünglich hatte er auf Facebook nur eine Seite für Solidaritätsbekundungen für Chaled Said eingerichtet, einen 28-jährigen Blogger, den Polizisten in Alexandria aus einem Internetcafé gezerrt und bis zur Unkenntlichkeit zusammengeschlagen hatten. Ghonim fand die Bilder der Leiche im Netz und schrieb einen emotionalen Aufruf: "Wir sind alle Chaled Said". Was er da, wie er in seiner Biografie schreibt, am Küchentisch in seiner Wohnung in Dubai verfasst hatte, nahm auf Facebook Fahrt auf. Die Seite brachte die schwelende Wut über den Unrechtsstaat auf den Punkt, sie wurde zum digitalen Knotenpunkt für die Demonstranten auf der Straße.

Er muss das nun alles immer wieder neu erzählen, weil seine Erfahrungen mit dem toxischen Netz seine Arbeit mit Parlio so gut erklären. Und so kann er seinen Wertekanon viel besser vertreten, den er für Parlio aufgestellt hat: Diversität, Bedachtsamkeit, Höflichkeit. Er will keine Kontrolle, keine Regeln: "Wir schaffen eine Kultur, in der ein kluger Dialog unterschiedlicher Meinungen entstehen kann", sagt er. Jeder könne sich bei Parlio anmelden (unter parlio.com mit einem existierenden Social-Media-Konto von Facebook, Twitter oder LinkedIn).

Wer schreiben will, muss eingeladen sein. Bisher funktioniert das. Noch musste er niemanden ausschließen. Keiner habe einen anderen beschimpft. Allerdings hat Parlio bisher auch erst 17 000 Mitglieder. Nein, die Welt werde er mit Parlio nicht verändern, sagt er. Aber ein wenig Hoffnung bleibt.

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