Elektronische Gerichtsakten:Digitalisierte Wahrheit

Umzug Bundesverfassungsgericht

Aktenberge wie dieser im Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe sollen bald der Vergangenheit angehören: Die E-Akte kommt.

(Foto: Uli Deck/dpa)

Was nicht drinsteht, ist nicht in der Welt: Die Einführung der elektronischen Akte soll die Justiz revolutionieren. Papierliebhaber unter den Richtern fürchten, dass jemand kontolliert, wie hart sie arbeiten.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Nach außen zeigt die Justiz mit ihren ehrfurchtgebietenden Justizpalästen häufig noch das Gesicht des 19. Jahrhunderts. Innen vollzieht sich derzeit eine stille Kulturrevolution. Die Aktenstapel, die seit Jahrhunderten das Gedächtnis der Justiz sind, sie werden verschwinden. In den nächsten Jahren wird bundesweit die elektronische Akte eingeführt. "Das ist eine historische Stunde für die Justiz in Baden-Württemberg und darüber hinaus", formulierte Baden-Württembergs neuer Justizminister Guido Wolf (CDU) kürzlich bei der Vorstellung eines Pilotprojekts zur E-Akte am Landgericht Mannheim.

Wolfs dosiertes Pathos ist durchaus angebracht. Denn für die Richterschaft bedeutet die Umstellung weit mehr als nur ein bisschen neue Technik. Die Akte ist der papiergewordene Prozess, sie ist das zentrale Medium des Gerichtsprozesses. Dort findet sich der "Prozessstoff", also die Schriftsätze, aus denen die Richter im Zivilverfahren die Tatsachen herausdestillieren, auf denen das Urteil aufbaut. Was nicht in den Akten ist, ist nicht in der Welt, lautet ein Juristenwort: Die Akten enthalten die Prozesswahrheit.

Nur Privatpersonen dürfen nach 2022 beim Papier bleiben

Und die Akte bestimmt den Arbeitstakt der Justiz. Bei einer Ausstellung im Bundesverfassungsgericht haben Künstler vor einiger Zeit ein Video präsentiert - über den Aktenwagen, der von Zimmer zu Zimmer rollt. Dies sei der einzige Gegenstand, der alle im Gericht verbinde. Künftig wird der Richter wohl nur noch einen Signalton hören. "Sie werden künftig keine Aktenwagen mehr auf den Gängen sehen", stellte der Karlsruher OLG-Präsident Alexander Riedel bei der Mannheimer E-Akten-Präsentation fest.

Der Zeitplan für die E-Justiz wird vom Gesetz zum "elektronischen Rechtsverkehr" vorgegeben. Von 2018 an werden Rechtsanwälte ein elektronisches Anwaltspostfach haben - mit dessen Einführung hakt es derzeit freilich noch ein wenig. Von 2022 an wird die elektronische Kommunikation von Anwälten oder Behörden mit den Gerichten verbindlich; nur Privatpersonen dürfen vorerst beim Papier bleiben. Weil sich, wenn digital geklagt werden darf, auch gerichtsintern der Übergang zur elektronischen Aktenführung aufdrängt, arbeiten die Länder an der Einführung einer papierlosen Justiz. Baden-Württemberg erprobt in Mannheim und am Arbeitsgericht Stuttgart in mehreren Kammern die vollelektronische Aktenführung.

Schon 2020 soll die E-Akte in Zivilverfahren landesweit üblich sein, für 13 000 Arbeitsplätze und jährlich rund 850 000 Gerichtsverfahren. Auch im bayerischen Landshut läuft seit vergangenem Jahr ein Pilotprojekt, dort werden freilich vorerst im Hintergrund Papierakten weitergeführt, in Nordrhein-Westfalen testet das Landgericht Bonn die neue Technik. In NRW soll - so wenigstens lautet der ambitionierte Plan - die E-Akte schon 2018 zum Standard werden. In den Strafprozessen wird die Umstellung noch etwas länger auf sich warten lassen, im Gespräch ist das Jahr 2026.

Jeder Aktenberg passt bald auf einen Laptop

Von den ans Papier gewöhnten Richtern war immer wieder die Sorge vor der Umstellung zu hören - nicht anders als in anderen von der Digitalisierung betroffenen Berufsgruppen. Was bei der Präsentation der E-Akte in Mannheim zu sehen war, lässt freilich vermuten, dass sich in ein paar Jahren keiner mehr wird vorstellen können, wie man je ohne Elektronik zurechtkam: Auf dem Bildschirm sind die Akten in übersichtliche Ordnerstrukturen aufgeteilt. Die Schriftsätze lassen sich mit diversen Textmarkern bearbeiten, die den Text zugleich nach den Bedürfnissen der Richter sortieren. Wer gern seinen Kommentar zur Qualität des Anwaltsschriftsatzes an den Rand schreiben möchte, kann das mit einem Notizmodus tun. Und der Zugriff auf Kommentar-Fundstellen, die im Text an-gegeben sind, erfordert nicht einmal mehr den Griff ins Bücherregal; es genügt der Klick auf die Online-Datenbank.

Weil aber der Zugang zur E-Akte technisch einfacher ist als bei den papierenen Vorläufern, treibt die Richter die Sorge vor einer allzu neugierigen Dienstaufsicht um. Denn theoretisch wäre eine elektronische Leistungskontrolle möglich, die sich zum Beispiel in künftigen Beförderungsentscheidungen niederschlagen könnte. Ohne Beteiligung der richterlichen Personalvertretung wäre das aber wohl nicht zulässig - und dass die Richter ihrer eigenen Überwachung zustimmen, ist unwahrscheinlich.

Wer darf in die Akten schauen?

Zweitens gilt das Beratungsgeheimnis: Was sich an urteilsvorbereitenden Schriftstücken in den Akten befindet, ist allein Sache der entscheidenden Kammer oder des Senats - und nicht für die Augen des Gerichtspräsidenten oder gar von Justizangehörigen und Systemadministratoren bestimmt. Bereits 2010 hatte der Hessische Dienstgerichtshof für Richter deshalb in einem richtungsweisenden Urteil klargestellt, ein Einblick der Dienstaufsicht in interne Dokumente wäre ein Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit. "Es muss klare Regeln geben, wer in die Akten reinschauen darf", sagt Bernhard Scholz, der für den Deutschen Richterbund die Einführung der E-Akte begleitet hat.

Zunächst wird der Abschied vom Papier eher Aufwand denn Erleichterung bedeuten. In der Übergangsphase wird man viele Papierakten einscannen und sicherstellen müssen, dass die Systeme der Bundesländer untereinander kompatibel sind. Baden-Württemberg will in die neue Technik rund 25 Millionen Euro investieren. Für die Richter, die sich gern auch für die Gestaltung ihres Arbeitsalltags auf ihre Unabhängigkeit berufen, dürfte die E-Akte einen greifbaren Vorteil bringen: Die Arbeit am heimischen Schreibtisch wird einfacher. Der Aktenberg, mag er noch so groß sein, passt in jeden Laptop.

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