Süddeutsche Zeitung

20 Jahre Handys in Deutschland:Wer spricht, ist wichtig

Das Handy trifft den Nerv der Menschen - und ihre Nerven. Doch aus dem Statussymbol ist nicht nur für Berufstätige eine elektronische Leine geworden.

Michael Kuntz

Viel Kraft und viel Geld brauchte, wer mobil telefonieren wollte, als es noch nicht alle machten. Der Finanzmakler aus München steht heute an der Schwelle zum Ruhestand. Gut erinnert er sich, dass ihn vor vielen, vielen Jahren sein erstes Autotelefon 28.000 Mark gekostet hat. Dafür gab es ein 25 Kilogramm schweres Monstrum im Lederkoffer.

"Den konnte man aus dem Auto heraus nehmen und dann auf der Wiese telefonieren." Für das zweite Gerät zahlte er schon "nur" noch 19.000 Mark und im Preis enthalten war die Liste mit den Vorwahlen der regionalen Vermittlungsstellen, in denen ein Fräulein vom Amt die Verbindung einstöpselte.

Der Körperkontakt zum persönlichsten aller Elektrogeräte war damals noch nicht so eng wie später. Das änderte sich, als am 1. Juli vor zwanzig Jahren mit dem Start der D-Netze handlichere Geräte für den Mobilfunk kamen - von da an war Mobilkommunikation für alle möglich.

Abstehende Antenne

Das Motorola 3200 International war mit 500 Gramm vergleichsweise ein Leichtgewicht. Es kostete 3000 Mark. Heute gibt es ein Handy für ein Prozent dieses Preises - und auch noch ohne diese abstehenden Antenne, die das Innenfutter eines Sakkos zuverlässig ruinierte.

Kein anderes Produkt ist so stark im Preis gefallen und hat die Kommunikation zwischen den Menschen so stark verändert wie das Mobiltelefon. Jeder kann sich ein Handy leisten und jeder leistet es sich. Genau das ist das Problem. Jeder Deutsche besitzt heute im Schnitt 1,4 Handys - und die schreckliche Wahrheit ist: er benutzt sie auch. Praktisch in keinem Lebensbereich ist man mehr vor Telefonierern sicher. Nicht immer ging und geht es dabei um Wichtiges.

Die Geschichte des Mobilfunks ist auch eine Geschichte ausgesprochener Banalitäten. Damals auf Sylt am Flughafen Westerland hätte es stutzig machen müssen, als der Hauptstadtjournalist aus Bonn auf dem Beifahrersitz Platz nahm und dabei sein kofferradiogroßes Mobiltelefon mit dem selben Stolz vor sich hielt wie eine junge Mutter ihren Nachwuchs. Wenige Kilometer weiter kurz vor Wenningstedt rappelte dann die Kiste und alle im Auto waren überzeugt, dass mindestens der damalige Bundesfinanzminister Theo Waigel am Apparat war. Doch was geschah wirklich: Die Ehefrau erkundigte sich, ob die Landung auf der Nordseeinsel geglückt war.

Gespräche dieser Güte sind es, denen fortan nicht mehr auszuweichen war und ist. Gelobt sei Skandinavien, wo Mobiltelefone schon länger verbreitet sind als anderswo. In Nordeuropa gibt es sie solange, dass sich Regeln herausgebildet haben, die alle kennen und die sogar von fast allen befolgt werden. Zum Beispiel: Essen geht auch ohne Telefonieren.

Von dieser simplen Einsicht ist Deutschland noch heute weit entfernt. Im Gegenteil: Es steigt das Selbstbewusstsein mit der Kraft des Handy-Akkus. Und eventuelle Stille des Ruhebereiches im ICE der Bahn wirkt auf Vieltelefonierer eher wie eine Aufforderung zum Verfüllen dieses akustischen Vakuums. "Ich bin noch etwas länger unterwegs."

Wer spricht, ist wichtig, wer nicht spricht, hat nichts zu sagen. Diese Regel des modernen Aneinandervorbeilebens ist dem Mobiltelefon zu verdanken. Kopfhörer auf. Warum mit seinem Sitznachbarn in der U-Bahn reden, wenn es auch anders geht. Die Steigerung ist nur noch: Nicht reden, sondern klingeln lassen - egal, wen das stören könnte.

Sehr viele Besitzer moderner Mobilgeräte können zwar Kurznachrichten tippen und verschicken oder von unterwegs twittern, sie wissen aber offenbar nicht, dass sich Rufsignale stumm schalten lassen. Blinklicht oder Vibration sind die sozialverträglichen Varianten, die in der Umgebung für good vibrations sorgen würden. Die natürlich nicht so spektakulär sind wie das Anlassergeräusch des Motors in einem Lkw als Klingelton. Ach, Sie arbeiten tatsächlich bei MAN?

Die Rolle des Mobiltelefons als ein Statussymbol ist ohnehin stark gefährdet, seit immer mehr Arbeitgeber dazu übergegangen sind, ihre Mitarbeiter an die elektronische Leine zu legen. Wenig verständnisvoll wird in Chefetagen derzeit über Volkswagen hergezogen, wo den Angestellten jetzt keine Mails mehr in den Feierabend nachgeschickt werden.

Modern geht anders. Wenn das Handy drei Mal klingelt, gehen die meisten Menschen ans Telefon, auch wenn sie gerade im Auto unterwegs sind. Das ist verboten, doch dafür interessiert sich faktisch niemand, nicht einmal die Polizei. Nicht erreichbar zu sein, ist uncool. Für immer mehr Menschen heißt das: mobil erreichbar zu sein, einen stationären Telefonanschluss zu Hause besitzen sie überhaupt nicht mehr. Menschen reden mit Menschen direkt: Eltern mit Kindern, Freunde mit Freunden. Ich gebe den Hörer mal weiter, das hört man kaum noch. Ich stelle mal durch, das wird immer seltener.

Nerv der Menschen

Zwei Jahrzehnte gibt es die D-Netze in Deutschland, demnächst erreicht der Datenfunk die Provinz, mit mobilem Internet so schnell wie zu Hause. Mit dem Mobilfunk haben die Telekommunikations-Konzerne den Nerv der Menschen getroffen - und ihre Nerven. Schon bietet ein Hotelier auf einem Zipfel der Kapverden-Insel Boa Vista garantiert handyfreien Urlaub an. Der Mobilfunk macht Ruhe zu einem wertvollen Wirtschaftsgut.

Der Mobilfunk hat auch die Städte verändert, nicht nur durch Sendemasten. Handy-Läden gehören zum Inventar jeder Fußgängerzone. Oft sind sie voll ratloser Menschen, die Fragen zur Rechnung stellen. Denn auch das ist ein Kollateralschaden des Mobilfunk-Hypes: Immer neue und möglichst nicht leicht zu durchschauende Tarife erschweren die Vergleichbarkeit. Das soll wohl auch so sein. Die Kommunikations-Konzerne setzten mit ihren phantasievoll ausgeklügelten Tarifstrukturen neue Maßstäbe bei der Überrumpelung der Konsumenten.

Mal alles zusammen genommen, soll es doch tatsächlich ein paar Menschen geben, die sich wünschen, so ein Mobiltelefon möge wieder für mehr Menschen unerschwinglich werden und ruhig 28.000 Mark kosten oder eben auch 14.000 Euro.

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Quelle:
SZ vom 30.06.2012/mri
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