140-Zeichen-Netzwerk:Twitters gefährlicher Strategiewechsel

Minimalismus und Einfachheit war einmal. Twitter will jetzt Geld verdienen und ist bereit, fast alles in Frage zu stellen. So mancher fühlt sich da an MySpace erinnert.

Pascal Paukner

Eigentlich könnte Twitter-Chef Dick Costolo recht zufrieden sein. Sein Unternehmen wächst, schneller als Facebook sogar. Die Nutzer verbringen auch immer mehr Zeit auf Twitter und im Gegensatz zur Konkurrenz verfügt der Webdienst zumindest in Ansätzen über ein funktionierendes Geschäftsmodell im zunehmend wichtiger werdenden Social Web. Werden Tweets von Werbekunden in den Twitter-Timelines der Nutzer eingeblendet, ignorieren die Nutzer diese nicht, sondern klicken ab und an darauf. Damit verdient Twitter ordentlich Geld. Inzwischen sogar mehr als mit der Werbung, die über die Webversion des Dienstes ausgespielt wird.

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Sogar sein altes Logo (siehe Bild) hat Twitter durch ein neues ersetzt. Wichtiger aber ist der Strategiewechsel, den das Unternehmen derzeit fährt.

(Foto: AFP)

Dick Costolo ist aber nicht zufrieden. Frustriert soll er in der vergangenen Woche sogar gewesen sein, als er der US-Ausgabe der Financial Times ein Interview gab und dem Journalisten von den Problemen, mit denen Twitter kämpft, erzählte. Demnach befindet sich Twitter in einem Dilemma: Man wolle den Nutzern auch weiterhin ermöglichen, unter einem Pseudonym ihre Meinung kundzutun, andererseits wolle man den "entsetzlichen" Missbrauch, der damit getrieben werde, eindämmen.

Twitter überlege deshalb, Tweets von Nutzern künftig auszublenden, falls diese von den Algorithmen als nicht zuverlässig eingeschätzt werden, weil sie beispielsweise nur wenige Follower, ihr Profil nicht ausgefüllt oder kein Profilbild haben. Eine Idee, die Fragen aufwerfen und Probleme mit sich bringen könnte. Dessen sei man sich im Management "schmerzlich bewusst", sagte Costolo.

Kooperation mit Medienunternehmen

Auch wenn die endgültige Entscheidung hierüber noch nicht gefallen ist, überraschen kann der Vorschlag nicht. Twitter hat in den vergangenen Monaten eine Reihe von Entscheidungen getroffen, die deutlich machen: So wie es war, wird es nicht bleiben.

Die Indizien sind eindeutig: Die Expanded Tweets, die das Unternehmen beim Relaunch im vergangenen Dezember eingeführt hat sind ein Beispiel. Seit Dezember ist es möglich, Fotos und Videos direkt in der eigenen Twitter-Timeline anzusehen. Eine Funktion, die bald auch schon auf Texte und andere Multimediainhalte ausgeweitet werden soll. Twitter kooperiert dazu mit Medienunternehmen wie der New York Times und dem Wall Street Journal.

Es ist eine Strategie, die Twitter wegführt, von dem, was es einmal war: Ein minimalistischer, fast schon puristischer Aggregator individueller Nachrichtenquellen. Twitter wird damit dem großen Konkurrenten Facebook ähnlicher, das seit jeher mit einigem Erfolg darauf gesetzt hat, den Nutzer möglichst lange auf der Seite zu halten.

Ökosystem bringt keine Werbeeinnahmen

Doch nicht alleine die Nutzungsdauer will Twitter nach oben schrauben. Auch die Inhalte, die der Nutzer zu sehen bekommt, will das Unternehmen stärker regulieren. In der Anfangszeit herrschten quasi egalitäre Zustände auf der Plattform. Alle Nutzer waren gleichermaßen sichtbar. Der amerikanische Präsident tauchte in den Nachrichtenströmen gleichberechtigt mit Jugendlichen aus Kairo, Kiew oder Köln auf.

Heute gilt das nur noch eingeschränkt. Wer in der Webversion nach einem Stichwort sucht, bekommt zunächst vorgefilterte Ergebnisse präsentiert, die nach Kriterien berechnet werden, die für den Nutzer nicht transparent sind und die auch nur eingeschränkt beeinflusst werden können. Erst mit einem weiteren Klick ist die Gleichberechtigung aller Nutzer wiederhergestellt. Ob das auch in Zukunft noch der Fall sein wird, bleibt fraglich. In der iPhone-App lassen sich schon heute nur noch die Suchergebnisse anzeigen, die Twitter für wichtig erachtet. Der Nutzer als Souverän seiner Filter wird zur schönen Illusion.

Immerhin, mag man sich denken, ist das alles bislang kein allzu großes Problem. Wer Twitter gerne egalitär und puristisch mag, nutzt einfach einen Twitterclient und konserviert dort das Twitter vergangener Zeiten. Bislang funktionierte das einwandfrei. Doch auch damit könnte bald Schluss sein. In einem Blogeintrag kündigte Twitter kürzlich an, neue Zugriffsbeschränkungen für solche Nutzungsszenarien einzuführen. Sollte es tatsächlich so weit kommen, wäre auch das ein Kulturbruch. Twitter konnte in seiner Anfangszeit auch deshalb so schnell wachsen, weil es seinen Nutzern stets relativ große Freiheiten einräumte.

LinkedIn bereits ausgeschlossen

Noch heute existiert ein beeindruckend großes Ökosystem, das für viele Nutzer zwar erheblichen Zusatznutzen bringt, für Twitter aber keine Werbeeinnahmen. Manche vermuten nach dem Blogeintrag gar, dass Twitter mittelfristig Fremdzugriffe auf seine Daten völlig unterbinden könnte. Völlig aus der Luft gegriffen ist das nicht, erste Anzeichen gibt es: Dem Business-Netzwerk LinkedIn wurde vor wenigen Tagen der Zugang gekappt.

Wie weit Twitter seine neue Strategie noch treiben wird, ist derzeit noch unklar. Sollte Twitter tatsächlich zum Walled Garden und damit einem in sich geschlossenen System werden, dürfte das Investoren und Werbekunden freuen. Ob die Nutzer auch begeistert sein werden, bleibt abzuwarten. Das amerikanische Blog Gigaom warnte Twitter in dieser Woche schon einmal: "Aufgepasst, Twitter - erinnert euch daran, was mit MySpace und Digg passiert ist", überschrieb der Autor seinen Blogeintrag. Gigaom gehört zu den besseren der amerikanischen Techblogs.

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