Süddeutsche Zeitung

Zeugnisse:Noten sind Ungerechtigkeit als Programm

340 000 Schüler haben 2017 Abitur gemacht - und wurden mit Zensuren nur vermeintlich objektiv bewertet. Warum es dennoch so schwer ist, auf die sechs Zahlen zu verzichten.

Kommentar von Susanne Klein

Etwa 340 000 Schüler lernen gerade für das Abitur. Während Professoren, Lehrer und Politiker darüber streiten, was der höchste Schulabschluss noch wert ist, beißen sich die Abiturienten durch die Vektorrechnung und beten für gute Noten. Sie alle haben ein Recht darauf, dass ihre Leistung fair bewertet wird. Die Wahrheit ist, sie sollten nicht darauf hoffen. Nicht, wenn als Maßstab gilt, was Zensuren versprechen zu sein: objektiv, vergleichbar, wertbeständig; ein gerechter Leistungsnachweis für den Wettbewerb um Studienplätze und Ausbildungsstellen. Nichts davon trifft zu.

Das war nie anders, kollidierte aber noch nie so mit den Bildungszielen. Potenziale fördern, Unterschiede würdigen - das Recht des Einzelnen wird heute großgeschrieben. Dennoch werden Schüler mit denselben Mitteln bewertet wie zu Zeiten von Rohrstock und Frontalunterricht. Das ist inkonsequent, aber sei's drum: Spätestens fürs Abi lernt keiner mehr aus Interesse am Stoff. Jeder lernt jetzt für Noten, für "den Schnitt", der sein Leben bestimmen wird. Schon Grundschüler wissen, wie einschneidend "der Schnitt" sein kann. Eine Klassenarbeit kann alles entscheiden, ein Wortbeitrag die zweite Stelle hinterm Komma ausmachen. In Bayern verlangen die Gymnasien einen Schnitt von 2,33, die Realschule will 2,66.

Sind die Thüringer wirklich klüger als die Niedersachsen?

Die sachliche Gestalt der Ziffern gaukelt Objektivität vor. Die Statistik hält dagegen: Abiturnoten werden stetig besser, jedoch nicht in allen Bundesländern gleichermaßen. Nähme man die Ergebnisse ernst, wären Thüringer merklich klüger als Niedersachsen. Was für ein Unsinn. Auch lokal herrscht Dissens, manche Schule prüft strenger als die um die Ecke, Stadtviertel entwickeln eigene Notenkulturen. Ein bundesweiter Aufgabenfundus für Deutsch, Mathe, Englisch und Französisch soll das Abi jetzt vergleichbarer machen. Doch die Länder dürfen sich bedienen, sie müssen nicht. Dieses Reförmchen wird wohl verpuffen. Für echte Vergleichbarkeit müssten alle Länder mit denselben Aufgaben ins Rennen gehen. Doch das wollen sie nicht. Die einen fürchten den Wettbewerb, die anderen den Niveauverlust. Das Chaos, es wird bleiben.

Schafft die Noten ab, fordert die Bildungsgewerkschaft GEW. Vorerst nur in der Schule, da aber in allen Schulformen und Jahrgängen. Wäre das die Lösung? Ihren Platz könnte das geschriebene Wort einnehmen, das Berichtszeugnis, das den Leistungsstand jedes Schülers genau beschreibt. Viele Lehrer und Eltern wollen dieses Zeugnis. Sie wissen, wie schnell Noten die Wissbegier von Erstklässlern vernichten können. Nicht zufällig ist zu Beginn der Grundschule das Berichtszeugnis inzwischen bundesweit verbreitet. Dort kann der Lehrer differenziert kommentieren. Beispiel Englisch: Du hast gut Vokabeln gelernt, solltest aber an deiner Aussprache arbeiten. Der Bericht kann motivieren, unterstützt die Lernentwicklung, stellt den Zensuren etwas zur Seite, das ihnen fehlt: die individuelle, facettenreiche Einschätzung des Schülers.

Zensuren und Berichte könnten sich ergänzen

Der Bericht wird der Person gerecht. Noten werden dem Wettbewerb gerecht. Sie auszutauschen, haut jedoch nicht hin. Die Gesellschaft kann und will das Mittel des Vergleichs nicht missen, paradoxerweise auch dann nicht, wenn es Spielball der Verhältnisse ist. So räumt der Philologenverband der Gymnasiallehrer ein, dass ein und dieselbe Deutscharbeit je nach Bundesland, Schule, Lehrer, ja nach Laune des Lehrers unterschiedlich ausfallen kann. Trotzdem befürwortet er Noten. Das ist Ungerechtigkeit als Programm, und die meisten Menschen billigen es. 75 Prozent aller Deutschen finden Zensuren sinnvoll, ergab eine repräsentative Umfrage. Sie sind ein weltweites Erfolgssystem, viele Staaten arbeiten mit Ziffernnoten. In Deutschland sind sie seit 200 Jahren üblich, die Sechs gibt es sogar erst seit der Nazi-Zeit.

Anders als der Bericht bilden Zensuren ein leicht überschaubares System, in dem Schüler die eigene Leistung fast immer so einordnen, wie es auch der Lehrer tut. Sie geben - unzuverlässig - Orientierung, für die Schullaufbahn, im Lehrstellenmarkt, bei der Studienplatzvergabe. Sie sind mitsamt der verhassten Sechs so tief im Denken verankert, dass jeder, der ein Berichtszeugnis liest, unwillkürlich fragt: Und was heißt das in Noten? Er versucht es zurückzuübersetzen. Sechs Zahlen sind so viel einfacher als zwei Seiten Text.

Bayerns Schülerrat will Noten nicht abschaffen, sie sollten aber nicht das einzige Maß sein. Gute Idee! Die Schule könnte aus zwei Systemen, die nicht perfekt sind, sich aber gegenseitig da ergänzen, wo sie Schwächen haben, ein System machen. Dann stünden unter der Note des Mathelehrers einige erklärende, richtungsweisende Sätze. Und zwar nicht nur in der ersten, sondern auch in der zwölften Klasse.

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SZ vom 28.04.2017/lho
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