Zensuren in Schulzeugnissen:Den Schülern gerecht werden

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Sind Noten ungerecht?

Ich habe als Lehrer 34 Jahre lang Noten verteilt, und mit jedem Jahr bin ich unsicherer geworden. Je länger ich unterrichtet habe, umso klarer ist mir geworden, dass ich gar keine objektiven Noten geben kann.

Warum nicht?

Weil ich ein Mensch bin mit Gefühlen, mit Sympathien und Antipathien. Außerdem weiß ich als Lehrer oft gar nicht, was ein Kind erlebt hat, bevor es in meine Klasse gekommen ist. Ich habe früher gedacht, man könnte als Lehrer gerecht bewerten. Aber ich habe mich davon verabschiedet. Es gibt keine objektive Bewertung, obwohl sich alle Lehrer große Mühe geben.

Aber genau dieser Eindruck wird doch erweckt. Wenn es in der vierten Klasse um den Übertritt geht, wird der Schnitt sogar akribisch auf zwei Stellen hinterm Komma ausgerechnet: Wer 2,33 hat, kommt aufs Gymnasium; 2,66 bedeutet Realschule. Wer schlechter ist, kommt auf die Mittelschule.

Das ist absurd. In dem Moment, in dem die Noten als statistisches Material verwendet werden, um Sortierprozesse zu legitimieren, brauche ich natürlich für jeden Sieger auch einen Verlierer.

Das müssen Sie bitte erklären.

Wenn es nur Einser- und Zweier-Schüler gäbe, würde ja das gegliederte Schulsystem nicht mehr funktionieren. Es ist also von vorneherein klar, dass es auch Schüler mit schlechten Noten geben muss. Sonst wäre ja plötzlich keiner mehr da, der in die Mittelschule geht. Unser Bildungssystem erzwingt also, dass es Verlierer gibt. Das ist zynisch und passt nicht zu einer pädagogischen Einrichtung. Dazu kommt, dass in unserem Bildungssystem immer alles im Gleichschritt gehen muss.

Inwiefern?

Man merkt immer noch, dass Schule früher eine paramilitärische Einrichtung war. Die Kinder mussten in Reih und Glied sitzen. Sie mussten aufspringen, wenn der Lehrer hereinkam, und einen zackigen Gruß abgeben. Davon sind wir zum Glück inzwischen weit entfernt. Aber wir müssen uns noch lösen von der Vorstellung, dass alle Kinder im selben Zeitraum, in derselben Geschwindigkeit dieselben Inhalte lernen müssen, die dann am selben Tag in einer Probe oder Klausur abgefragt werden. Das ist Schule von vorgestern. Wir brauchen die Schule von morgen, in der jedes einzelne Kind einen eigenen Lernplan bekommt, der auf sein individuelles Lerntempo und seine Kapazitäten abgestimmt ist.

Und ein Zeugnis ohne Noten.

Ja. Das heißt aber nicht, dass Kinder und Eltern keine Rückmeldung darüber bekommen sollen, wie es in der Schule läuft. Im Gegenteil. Sie sollten gehaltvollere Informationen bekommen. Ein Zeugnis sollte etwas über den Entwicklungsprozess eines jungen Menschen aussagen, über seine Stärken und Schwächen. In Deutsch könnte sich das etwa so anhören: "Du hast im Rechtschreiben enorme Fortschritte gemacht, ich finde es originell, wie du im Aufsatz Gedanken formulierst, in der Grammatik müssen wir noch üben." Das ist viel aussagekräftiger als die Ziffer "Zwei" oder "Drei".

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