Zensuren in Schulzeugnissen:"Noten sind ungerecht und subjektiv"

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Schulnoten sind oft demotivierend - und sie sagen wenig über den Leistungsstand eines Schülers aus. Der Präsident des Bayerischen Lehrerverbandes hält Zeugnisse in ihrer jetzigen Form für überholt. Er fordert eine andere Art der Benotung.

Mehr als eine Million Schüler und Schülerinnen in Bayern bekommen an diesem Freitag ihr Zwischenzeugnis. Doch wie aussagekräftig und gerecht sind Noten eigentlich? Die SZ sprach darüber mit Klaus Wenzel, dem Präsidenten des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV).

Die Benotung von Schülern ist nicht immer gerecht. (Foto: dpa)

Ist es sinnvoll, Schulerfolg in Noten zu messen?

Nein. Noten haben relativ wenig Informationsgehalt. Das gute Dutzend Ziffern im Zeugnis sagt fast nichts über den Leistungsstand eines jungen Menschen aus.

Warum nicht?

Noten sind nicht zuverlässig. Die Note "Zwei" beispielsweise sagt ja nicht, dass ein Schüler eine gute Leistung erbracht hat. Sie sagt, dass er in seiner Klasse zu denen gehört, die an der zweiten Position stehen. Es könnte sein, dass er mit der gleichen Leistung an einer anderen Schule, an einem anderen Ort einen Einser hätte. Es könnte aber auch sein, dass er an einer anderen Schule, an einem anderen Ort nur einen Dreier hätte.

Wieso das denn?

Ein durchschnittlicher Schüler hat in einem schwächeren Umfeld bessere Noten als in einem stärkeren. Das liegt daran, dass wir nicht den Lernfortschritt des einzelnen Kindes bewerten, sondern immer den Vergleich mit den anderen aus der Klasse ziehen. Wir vergleichen Paul mit Sofie und Sofie mit Emma. Wir müssten aber schauen: Was kann Paul im Februar 2012, was er im September 2011 noch nicht gekonnt hat.

Die Noten eines Kindes hängen also davon ab, in welcher Klasse es zufällig gelandet ist?

Ja. Man könnte sogar Vorhersagen für bestimmte Stadtviertel machen. In Nürnberg hätte Paul vermutlich ein besseres Zeugnis, wenn er eine Schule in Gostenhof besuchen würde, als wenn er im vornehmen Erlenstegen zur Schule gehen würde. In München hätte er in Milbertshofen bessere Noten als in Nymphenburg oder in Bogenhausen.

Aber wollen Kinder nicht wissen, wo sie im Vergleich zu anderen stehen? Noten können doch auch motivierend sein.

Ja, wenn sie gut sind. Kinder wollen Einser und Zweier. Das bedeutet nämlich: "Du bist gut dabei." Und das wollen Kinder tatsächlich wissen. Beim Dreier und Vierer sind sie schon nicht mehr so begeistert, weil das bedeutet: "Na ja, du bist so im Mittelfeld." Vom Fünfer und Sechser ganz zu schweigen. Diese Noten sind demotivierend. Viele Kinder fühlen sich auch ungerecht behandelt, wenn sie schlechte Noten bekommen.

Sind Noten ungerecht?

Ich habe als Lehrer 34 Jahre lang Noten verteilt, und mit jedem Jahr bin ich unsicherer geworden. Je länger ich unterrichtet habe, umso klarer ist mir geworden, dass ich gar keine objektiven Noten geben kann.

Warum nicht?

Weil ich ein Mensch bin mit Gefühlen, mit Sympathien und Antipathien. Außerdem weiß ich als Lehrer oft gar nicht, was ein Kind erlebt hat, bevor es in meine Klasse gekommen ist. Ich habe früher gedacht, man könnte als Lehrer gerecht bewerten. Aber ich habe mich davon verabschiedet. Es gibt keine objektive Bewertung, obwohl sich alle Lehrer große Mühe geben.

Aber genau dieser Eindruck wird doch erweckt. Wenn es in der vierten Klasse um den Übertritt geht, wird der Schnitt sogar akribisch auf zwei Stellen hinterm Komma ausgerechnet: Wer 2,33 hat, kommt aufs Gymnasium; 2,66 bedeutet Realschule. Wer schlechter ist, kommt auf die Mittelschule.

Das ist absurd. In dem Moment, in dem die Noten als statistisches Material verwendet werden, um Sortierprozesse zu legitimieren, brauche ich natürlich für jeden Sieger auch einen Verlierer.

Das müssen Sie bitte erklären.

Wenn es nur Einser- und Zweier-Schüler gäbe, würde ja das gegliederte Schulsystem nicht mehr funktionieren. Es ist also von vorneherein klar, dass es auch Schüler mit schlechten Noten geben muss. Sonst wäre ja plötzlich keiner mehr da, der in die Mittelschule geht. Unser Bildungssystem erzwingt also, dass es Verlierer gibt. Das ist zynisch und passt nicht zu einer pädagogischen Einrichtung. Dazu kommt, dass in unserem Bildungssystem immer alles im Gleichschritt gehen muss.

Inwiefern?

Man merkt immer noch, dass Schule früher eine paramilitärische Einrichtung war. Die Kinder mussten in Reih und Glied sitzen. Sie mussten aufspringen, wenn der Lehrer hereinkam, und einen zackigen Gruß abgeben. Davon sind wir zum Glück inzwischen weit entfernt. Aber wir müssen uns noch lösen von der Vorstellung, dass alle Kinder im selben Zeitraum, in derselben Geschwindigkeit dieselben Inhalte lernen müssen, die dann am selben Tag in einer Probe oder Klausur abgefragt werden. Das ist Schule von vorgestern. Wir brauchen die Schule von morgen, in der jedes einzelne Kind einen eigenen Lernplan bekommt, der auf sein individuelles Lerntempo und seine Kapazitäten abgestimmt ist.

Und ein Zeugnis ohne Noten.

Ja. Das heißt aber nicht, dass Kinder und Eltern keine Rückmeldung darüber bekommen sollen, wie es in der Schule läuft. Im Gegenteil. Sie sollten gehaltvollere Informationen bekommen. Ein Zeugnis sollte etwas über den Entwicklungsprozess eines jungen Menschen aussagen, über seine Stärken und Schwächen. In Deutsch könnte sich das etwa so anhören: "Du hast im Rechtschreiben enorme Fortschritte gemacht, ich finde es originell, wie du im Aufsatz Gedanken formulierst, in der Grammatik müssen wir noch üben." Das ist viel aussagekräftiger als die Ziffer "Zwei" oder "Drei".

© SZ vom 17.02.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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