Süddeutsche Zeitung

Zensur:Die Kasseler Liste

Der "Parthenon of Books", ein Tempel aus verbotenen Büchern, ist einer der Höhepunkte der Documenta. Germanisten der Uni Kassel folgten der Spur der Werke - und erstellten eine der weltweit größten Sammlungen geächteter Literatur.

Von Susanne Höll

Die Universität in Kassel ist keine altehrwürdige Alma Mater. Doch die Geisteswissenschaftler, genauer gesagt die Germanisten, haben nun eine Art Coup gelandet. Ohne jedwedes Budget, aber mit viel Herzblut, wagten sich 20 Studenten und zwei Lehrende an eine faszinierende, wenngleich höchst ambitionierte Aufgabe. Sie nahmen sich vor, eine möglicht umfangreiche, wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Liste der verbotenen Bücher dieser Welt zu erstellen. Ein unmögliches Projekt.

Die Geschichte begann im Spätsommer 2016. Da fragten die Organisatoren der Documenta in Kassel bei Nikola Roßbach an, ob eine solche Liste der Zensur möglich sei. Der Anlass war der inzwischen weit über die Grenzen der Stadt bekannte Bücher-Parthenon der argentinischen Künstlerin Marta Minujín. Auf dem Friedrichsplatz hatte sie den Tempel auf der Akropolis in Athen nachbauen lassen, das Gestell über und über behängt mit Büchern, die nicht erscheinen durften oder dürfen. Ein Mahnmal für die globale Meinungsfreiheit und gegen die Verfolgung von Autoren in noch immer vielen Ländern. Die Bücher sind Spenden von Bürgern aus Kassel und anderswo sowie Verlagen aus aller Welt.

Die Nationalsozialisten notierten mit bürokratischer Akkuratesse jedes verbotene Werk

Die Documenta-Leute wünschten eine wissenschaftliche Begleitung, eine Expertise, ob die Parthenon-Bücher tatsächlich allesamt Zensur-Opfer sind. Roßbach, seit 2011 Professorin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft in Kassel, sagte zu, allen widrigen Umständen zum Trotz. Denn für eine solche Sisyphos-Aufgabe, die zudem binnen weniger Monate abgeschlossen sein sollte, gab es an der Uni weder Geld noch ein Mitarbeiter-Team. Also wurde improvisiert. Roßbach und ihr Kollege Florian Gassner gewannen knapp zwei Dutzend Studenten für das Vorhaben, die neben ihrem regulären Hochschul-Pensum nach verbotenen Büchern suchten. Und die Universitätsleitung unterstützte das Projekt, wo immer es ohne finanzielles Engagement möglich war.

Entstanden ist eine der weltweit umfangreichsten Sammlungen zum Thema Zensur, mit Schwerpunkt in Europa, aber auch Beispielen aus dem nahen und fernen Ausland. Rund 70 000 Titel stellten die Kasseler zusammen, jedes der bislang etwa 45 000 Werke, die am Documenta-Parthenon hängen, ist darin notiert. Roßbach sagt mit Stolz: "Mit dem Projekt haben wir einen Impuls gesetzt, um in den aktuellen krisenhaften politischen Zeiten das Ausmaß der globalen Zensur zumindest anzudeuten."

Thomas Mann steht auf der Liste, so wie alle in der NS-Zeit in Deutschland verbotenen Autoren. Die Nationalsozialisten hatten mit bürokratischer Akkuratesse jedes verbotene Werk sorgsam notiert. Auch die katholische Kirche listete über Jahrhunderte hinweg Bücher auf, deren Lektüre den Gläubigen untersagt war. Die Machthaber in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), dem Vorläufer der DDR, haben nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ebenfalls sorgsam aufgeschrieben, welche Literatur in Ostdeutschland nach 1945 verboten sein sollte. Eine weitere umfangreiche Zensur-Liste hinterließen die Behörden des einstigen Habsburger Reiches. Diese Dokumente bildeten den Grundstock der Kasseler Liste, ergänzt durch mühsame Recherchen der Studenten.

Sie forschten, gelegentlich mithilfe sprachkundiger Kommilitonen, nach Beispielen für Zensur in Europa und fernen Erdteilen. In Malawi, so eines der Ergebnisse, sind heutzutage Schriften untersagt, die sich mit Homosexualität beschäftigen. Künftige Romanisten recherchierten Tabu-Literatur in Lateinamerika. Und eine Germanistik-Studentin stellte in monatelanger Arbeit eine Liste von etwa 1000 Titeln zusammen, die in der Türkei verboten waren oder sind. "Ein Highlight der Listenforschung", sagt Roßbach.

Lehrende und Studierende entdeckten alsbald die Grenzen ihres Forscherdranges. Mit mehr Zeit, mehr Geld und mehr Personal wäre der Zensur-Katalog weit umfangreicher geworden, Schönheitsfehler hätten bereinigt werden können. Denn bei einigen Titeln fehlen Angaben zum Verlag oder zum Erscheinungsort. Gemessen an wissenschaftlichen Kriterien ist die Liste in sich nicht komplett. Das schmerzt die Professorin, war aber, wie sie sagt, in der Kürze der Zeit nicht zu ändern.

Doch selbst mit einem Millionen-Budget und einem riesigen Stab von Mitarbeitern sei es nicht möglich, eine komplette Liste aller verbotenen Bücher dieser Welt zu erstellen, sagen die Forscher. Weil die wenigsten Regierenden früherer oder heutiger Zeiten einigermaßen vollständige Zensurtabellen aufstellen ließen. Die Listen des Vatikans, der Nazis, der Habsburger und der SBZ-Kulturbürokraten sind im internationalen Vergleich Ausnahmen. In den allermeisten Ländern gibt es keine solchen Archive, auch weil die Machthaber lernten. In der DDR etwa durften viele Bücher gar nicht erst erscheinen, andere waren aus öffentlich zugänglichen Bibliotheken verschwunden, zumindest zeitweise. Eine Titel-Sammlung gab es nicht, schließlich existierte in der DDR nach SED-Lesart keine Zensur. Wenn wieder einmal ein Werk nicht erscheinen durfte, wurde dies gern mit Papiermangel erklärt.

Wer beim Thema Zensur an graugesichtige Männer denkt, die fernab der Öffentlichkeit ihren Zensur-Index fertigen, liegt falsch. "Die historische Erfahrung zeigt, dass die Praxis viel hinterhältiger ist", sagt Gassner. Der 34 Jahre alte Germanist ist als Gastdozent in Kassel, er lehrt ansonsten an der Universität von British Columbia in Kanada deutschsprachige und osteuropäische Literatur- und Kulturgeschichte. Er erzählt von Tabus, ungeschriebenen gesellschaftlichen Regeln, informellen Verboten und Selbstzensur. Sein Resümee: "Man kann nicht immer klar sagen, warum ein Autor verstummte."

Gemeinsam mit Roßbach will Gassner sich weiter dem Thema verbotener Bücher widmen. Die beiden untersuchen, warum über Epochen hinweg immer neue, vermeintlich aufgeklärtere Systeme sich der Zensur bedienten. Denn dass es unter einem Regime, das sich selbst als freiheitlich versteht, auch wirklich mehr Denk- und Meinungsfreiheit gab oder gibt, lasse sich wissenschaftlich nicht belegen, sagt Roßbach.

Ihr Projekt hat an der Uni für kontroverse Debatten gesorgt. Über die Frage, wie es um die Zensur im demokratischen Deutschland stehe, schieden sich die Geister. Dass am Documenta-Parthenon keine Schriften aushängen, in denen der NS-Staat verherrlicht wird, gebieten nicht nur die deutschen Gesetze, das war auch eine Forderung der Künstlerin Marta Minujín. Roßbach findet diese Einschränkung richtig. Das Projekt soll über die Tore der Universität hinauswirken. Studenten werden die Liste in Kassel und Göttingen den Bürgern präsentieren, die Bücher sollen nach dem Ende der Documenta verteilt werden. Wären rechtsradikale Sudeltexte darunter, wäre der öffentliche Aufschrei garantiert.

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Quelle:
SZ vom 12.06.2017
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