Wissenschaft:Es ist gefährlich, in der Türkei zu forschen

Demonstrators shout slogans during a protest against a purge of thousands of education staff since an attempted coup in July, in front of the main campus of Istanbul University at Beyazit square in Istanbul

Demonstranten auf dem Campus der Universität Istanbul protestieren gegen die Festnahme von weiteren 100 Akademikern.

(Foto: Osman Orsal/Reuters)

Die Erdoğan-Regierung nimmt an türkischen Unis Säuberungen vor. Dozenten haben ständig Angst, denunziert zu werden. Aber ein paar Inseln des Widerstands gibt es noch.

Von Luisa Seeling

Es hatte sie beide am selben Tag erwischt, aber das war kein Trost. Am 1. September verloren Derya Keskin und ihr Mann Yücel Demirer ihre Jobs an der Kocaeli-Universität. 37 weitere Mitarbeiter mussten gehen, an den Hochschulen im ganzen Land waren es 2344. Insgesamt verloren 43 000 Staatsbedienstete ihre Arbeit - an einem einzigen Tag, per Notstandsdekret. "Mit einer Suspendierung haben wir gerechnet", sagt Keskin. "Aber dass sie uns ganz rauswerfen - das hätten wir nicht gedacht."

Beide sind Sozialwissenschaftler, sie hatte eine Juniorprofessur am Institut für Arbeitsökonomik, er war außerordentlicher Professor am Institut für Politikwissenschaft. Kocaeli ist eine der größten Hochschulen des Landes, sie befindet sich in İzmit, einer Industriestadt am östlichsten Zipfel des Marmarameeres; eine Stunde braucht man mit dem Auto nach Istanbul. Seit drei Monaten sind Keskin, 48, und Demirer, 53, jetzt arbeitslos. Mit der Kündigung haben sie das Recht verloren, an einer staatlichen Einrichtung zu arbeiten. Es gab keine Anhörung, keine Möglichkeit, Widerspruch einzulegen.

Beide bekommen kein Gehalt mehr, kein Arbeitslosengeld. Sie leben von Spenden und der Unterstützung ihrer Gewerkschaft. Trotzdem klingen sie bemerkenswert aufgeräumt. Das Telefon ist auf Lautsprecher gestellt, meist redet sie, er ergänzt. "Wir halten euch ganz schön auf Trab, was?!", fragt er in Anspielung auf die vielen Negativschlagzeilen, die sein Land produziert. Galgenhumor.

Tatsächlich haben sich die Ereignisse überschlagen seit dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli. Mehr als 120 000 Staatsbedienstete sind entlassen oder suspendiert worden, darunter mehr als 4000 Wissenschaftler und Lehrkräfte an Hochschulen. 15 Universitäten sind ganz geschlossen worden. Und die Entlassungswelle rollt weiter. Gerade hat die Regierung noch einmal mehr als 15 000 Staatsangestellte entlassen, darunter fast tausend Uni-Mitarbeiter.

Im Visier stehen vor allem Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen, der seit Ende der Neunziger in den USA lebt. Die türkische Regierung hält ihn für den Drahtzieher des Putschversuchs. Recep Tayyip Erdoğan, der mächtige Präsident, spricht von "Säuberungen". Es gelte, sich gegen die Bedrohung durch die Gülenisten zu verteidigen. Seine Kritiker halten das für einen Vorwand. "Der Putschversuch hat der Regierung den Anlass für einen Generalangriff auf Bildung und akademische Freiheit geliefert", sagt Kader Konuk, Professorin und Leiterin des Instituts für Turkistik an der Universität Duisburg-Essen. Der Angriff habe lange vor dem gescheiterten Putsch begonnen.

Es ist ein Aufstand der Gebildeten gegen die Regierung

Besonders zu spüren bekamen ihn jene Wissenschaftler, die im Januar einen Friedensaufruf unterzeichneten. "Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein" lautete die Überschrift. Die 1128 Unterzeichner nannten sich "Academics for Peace" und riefen zu einem Ende des "Massakers" an der kurdischen Bevölkerung in der Südosttürkei auf. An keiner Stelle rief der Text zu Gewalt auf. Die Regierung reagierte trotzdem mit Härte. Erdoğan beschimpfte die Unterzeichner als "Pseudowissenschaftler" und Landesverräter. Der Vorwurf: Terrorpropaganda - die Unterzeichner seien Unterstützer der militanten kurdischen PKK. Was folgte, war eine Hexenjagd: Verhöre, Verhaftungen, Suspendierungen.

1500 Dekane wurden zum Rücktritt gedrängt

Wie einige andere Wissenschaftler außerhalb der Türkei hat auch Konuk den Friedensappell unterschrieben. Sie hält ihn für das bedeutendste Zeichen des zivilen Ungehorsams seit den Gezi-Protesten 2013. Er sei ein "Aufstand der Gebildeten" gegen eine Regierung, die "nationalistische und islamistische Hetze gegen Regimekritiker propagiert", schreibt sie in einem Aufsatz. Trotz Erdoğans Drohungen schlossen sich weitere 1000 Unterzeichner an. Doch die Academics for Peace zahlen einen Preis. Mehr als 500 sind von Disziplinarmaßnahmen betroffen, vier stehen vor Gericht. Dutzende wurden entlassen. Mit jeder Kündigungswelle werden es mehr - obwohl sie mit der Gülen-Bewegung nichts am Hut haben. Die meisten stammen aus dem säkularen, linken Milieu.

Keskin und Demirer haben den Aufruf ebenfalls unterschrieben. "Als das im Januar öffentlich wurde, wurden wir festgenommen - von der Antiterrorpolizei", sagt Keskin, noch immer fassungslos. Nach einem Tag ließ man sie laufen. "Doch seitdem standen wir an der Uni unter Beobachtung, man hat uns Dienstreisen verweigert, aus Komitees rausgedrängt." Studenten hätten sich unter Druck abgewandt, erzählt Demirer. "Für die Hochschulleitung war der Putsch eine Chance, uns loszuwerden."

Das Hochschulwesen in der Türkei ist hierarchisch organisiert, der Staat hat den Universitäten nie viel Freiheiten zugestanden. Die AKP-Regierung nutzt den Ausnahmezustand, um die Universitäten ganz unter Kontrolle zu bringen. Nach dem Putschversuch forderte der Zentrale Hochschulrat 1500 Dekane staatlicher Hochschulen zum Rücktritt auf. Alle kamen dem nach. Einige wurden wieder eingestellt, andere wurden ausgetauscht, "ersetzt durch regierungsnahe Kräfte", sagt Konuk. "Inzwischen sind die türkischen Universitäten regelrecht gleichgeschaltet."

Geändert wurde auch das Verfahren, mit dem Hochschulrektoren ins Amt kommen. Künftig benennt der Hochschulrat drei Kandidaten, der Präsident wählt einen aus. Bisher konnten die Universitäten in einem internen Wahlverfahren eine Kandidatenliste erstellen, die in der Regel berücksichtigt wurde. Den Hochschulen werde so "das letzte bisschen Autonomie genommen", sagt Konuk.

Viel Unsicherheit erzeugte eine Anordnung des Hochschulrats, die Wissenschaftlern und Lehrkräften staatlicher Universitäten die Ausreise bis auf Weiteres untersagte. Wer im Ausland war, wurde zur Rückkehr aufgefordert. Begründung: Man wolle verhindern, dass sich Verschwörer absetzen. Bis heute aber ist unklar, wie die Anweisung umgesetzt wird. Es kursieren Berichte über Akademiker, denen die Ausreise verweigert wird. Doch wer raus darf und wer nicht, stellt sich oft erst am Flughafen heraus. Ein Problem kann der Dienstpass sein, auf den in der Türkei Anspruch hat, wer mehr als zehn Jahre an einer staatlichen Uni gearbeitet oder den Rang eines Professors erreicht hat: Er ermöglicht visafreies Reisen in den Schengenraum. "Eigentlich wunderbar, doch wer einen solchen Pass hat, ist als Staatsbediensteter erkennbar", sagt Konuk. "Gut möglich, dass die Beamten da zweimal hinschauen, ob man auf irgendeiner Liste steht."

1500 Dekane wurden zum Rücktritt gedrängt. Alle gingen

Auch Keskin und Yücel besaßen bis zu ihrer Entlassung so einen Pass. "Ob wir ausreisen dürfen? Keine Ahnung, wir haben es nicht ausprobiert", sagt Keskin. "Wir wollen aber auch gar nicht." Anders liegt der Fall des Soziologen Sharo Garip: Der 50-Jährige würde die Türkei gerne verlassen, darf aber nicht - obwohl er einen deutschen Pass hat. Garip ist Kurde, in der Türkei geboren, Anfang der Neunziger kam er als politischer Flüchtling nach Deutschland, später wurde er eingebürgert. Vor drei Jahren nahm er in der osttürkischen Stadt Van eine Stelle als Dozent an. Im Januar unterzeichnete er den Friedensaufruf - und verlor seinen Job. Nun darf er nicht arbeiten, aber auch nicht ausreisen. Den deutschen Behörden wirft er vor, zu wenig Druck auf die Türkei auszuüben.

"Wir lassen die Studenten nicht im Stich"

Wissenschaft: Yücel Demirer und Derya Keskin verloren ihre Jobs an der Kocaeli-Universität. In den Räumen ihrer Gewerkschaft organisieren sie die "Solidaritäts-Akademie".

Yücel Demirer und Derya Keskin verloren ihre Jobs an der Kocaeli-Universität. In den Räumen ihrer Gewerkschaft organisieren sie die "Solidaritäts-Akademie".

(Foto: oh)

Im Fall der Academics for Peace sind die Zahlen bekannt. Ihr Schicksal erregt international Aufmerksamkeit. Am 4. Dezember bekommen die Akademiker in Deutschland den hochdotierten Johann-Philipp-Palm-Preis für Meinungs- und Pressefreiheit verliehen. Weniger bekannt ist, wie es um die Masse der Entlassenen ohne besonderes politisches Profil steht. Die ihre Jobs wegen ihrer Nähe zur Gülen-Bewegung verloren haben - oder weil sie angestellt waren an einer Institution, die als Gülen-nah gilt.

So war es in Mehmets Fall; er heißt eigentlich anders, will anonym bleiben. Mehmet bittet um ein persönliches Gespräch, "keine Fragen per Mail oder Telefon, nichts, was gegen mich verwendet werden könnte". Am Ende darf kaum etwas in der Zeitung stehen. Nur so viel: Mehmet stand auf keiner Entlassungsliste, er hat an einer Forschungseinrichtung gearbeitet, die nach dem Putsch geschlossen wurde. Die Regierung war der Ansicht, der Leiter sei ein Gülenist. Alle Angestellten verloren ihren Job, auch Mehmet, der eine Frau und ein kleines Kind hat. "Dabei habe ich mit der Gülen-Bewegung nichts zu tun ", sagt er. Ob der Leiter wirklich Gülenist ist - "ich weiß es nicht", sagt er. Die Einrichtung hat Beschwerde eingelegt, doch Mehmet glaubt nicht, dass sie wieder geöffnet wird.

Ob der Ausnahmezustand im Januar endet, ist ungewiss. Die Regierung will mit den "Säuberungen" fortfahren, bis die vermeintliche Gefahr gebannt ist. An den Universitäten geht die Angst um. Die Furcht davor, denunziert zu werden. Einer Professorin an der Istanbuler Bilgi-Universität passierte genau das: Sie äußerte sich im Sommer kritisch über Erdoğan. Kurz darauf kursierten Ausschnitte ihres Seminars im Internet. "Professorin mit Kloaken-Maul", titelte ein regierungsnahes Blatt. Die Hochschullehrerin war ihren Job los. "Den Studierenden in der Türkei wird der Raum für kritisches Denken, für offenen Austausch genommen", beklagt Kader Konuk. Es sei kein Zufall, dass vor allem Geistes- und Sozialwissenschaften von den Regierungsmaßnahmen betroffen seien - Fächer, in denen freies Diskutieren und Gedankenaustausch besonders wichtig sind.

"Wir lassen die Studenten nicht im Stich. Wir kommen wieder."

Aber noch gibt es sie, die Inseln des Widerstandes. An der renommierten Boğaziçi-Universität in Istanbul protestierten kürzlich Hunderte Mitarbeiter gegen die Ernennung des Rektors durch Erdoğan. Auch an anderen Unis gab es Kundgebungen, etwa an der altehrwürdigen Istanbul-Universität. In mehreren Städten haben entlassene Dozenten und Forscher "alternative Universitäten" gegründet; sie geben Seminare zu Themen, die an den Hochschulen kaum noch stattfinden: Feminismus, Demokratie, kritische Theorie.

Auch in Kocaeli gibt es solche Teachings, die "Solidaritäts-Akademie" findet jeden Mittwoch von 17 bis 19 Uhr statt. Keskin und Demirer gehören zu den Organisatoren. Der Raum fasst 100 Leute, er ist ständig überfüllt. Als sie Anfang September aus ihren Büros rausmussten, beschlossen sie, dies nicht kampflos zu tun. "Wir haben Studenten, Freunden und Kollegen Bescheid gesagt, es wurde eine richtige Kundgebung draus", erzählt Keskin. "Wir haben klargemacht, dass wir wiederkommen. Wir lassen die Studenten nicht im Stich."

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