Kinder lieben bunte Bilderbücher. Das weiß auch der Chemiepark-Betreiber Currenta. Aktuell verteilt das Unternehmen - zu 60 Prozent gehört es Bayer und zu 40 Prozent der ehemaligen Bayer-Tochter Lanxess - Wimmelbücher an die Kleinsten. Ein Taucher entnimmt Proben aus dem Rhein, der Chemtour-Bus rollt übers Gelände, an allen Ecken wird fleißig gearbeitet. Und zwischen dem bunten Treiben fliegen farbenfrohe Ballons - natürlich mit dem Currenta Logo, das auf jeder Buchseite gleich mehrmals abgebildet ist.
Von 15 000 gedruckten Exemplaren wurden bereits 4000 verteilt. Das Wimmelbuch sei ein "wichtiger Bestandteil der Mathematik-, Informatik-, Naturwissenschaft- und Technik-Förderung, die so früh wie möglich begonnen werden sollte", sagt ein Unternehmenssprecher. Das Bilderbuch soll daher bereits Kindern im Kindergartenalter den Arbeitsalltag sowie Elemente der chemischen Industrie vermitteln, die an den Standorten Leverkusen, Dormagen und Krefeld-Uerdingen von großer Bedeutung sei.
Ob Kindergartenkinder dies erfassen können, ist fraglich. Eher interessieren sie wohl die niedlichen Tiere, die winkenden Menschen, die bunten Luftballons. Das darauf geschickt platzierte Logo trägt die Marke in die Köpfe der Kinder. So sieht es jedenfalls Norbert Hocke, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW): "Das Buch hat in der Kita nichts zu suchen. Wenn ich wirklich die Arbeitswelt an die Kinder herantragen will, dann sollen die Kleinen besser die Eltern am Arbeitsplatz besuchen."
Das Buch der Chemiefirma liegt im Kommunalen Bildungsbüro aus
Nach Auskunft eines Currenta Pressesprechers werden die Bücher nicht beworben. Dass die Botschaft des Unternehmens dennoch bei der Zielgruppe ankommt, dafür sorgt am Standort Leverkusen das Kommunale Bildungsbüro gleich selbst. Dort können Interessenten das Buch abholen. Weil es "logistisch der einfachste Weg" sei, sagt der Leiter des Bildungsbüros Michael Wilde. Bei einem lokalen Presstermin wurde das Buch in einer städtischen Kita vorgestellt, hinterher lächelten die Kinder in die Kamera.
Die Kritik einer gezielten Werbung für das Unternehmen weist die Stadt von sich. Das Landesjugendamt des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR), zuständig für die Betriebserlaubnis von Kindertageseinrichtungen, "steht dem Versuch einer direkten oder indirekten Einflussnahme von Unternehmen in Kindertagesstätten kritisch gegenüber", sagte ein Sprecher. Doch der Träger selbst sei der Verantwortliche, er treffe schließlich die Entscheidung, ob und welche Werbung gemacht werden dürfe. Auch Eltern und deren Kinder sollten auf ihre Mitbestimmungsrechte hingewiesen werden.
Aktuell gehen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes fast 3,4 Millionen Kinder im Alter von 0 bis 14 Jahren deutschlandweit in eine Tageseinrichtung - von der Krippe bis zum Hort. Im Kinder- und Jugendhilfegesetz ist neben der Erziehung und Betreuung auch der Bildungsauftrag festgeschrieben. Viele Firmen kommen daher unter dem Deckmantel pädagogisch wertvoller Bildung in die Kindertagesstätten. Unter Werbeagenturen hat sich das sogenannte "Education Marketing" inzwischen als eigener Geschäftszweig etabliert.
Viele Unternehmen dringen so geschickt in die Lebenswelt der Kinder vor: Der Schuhhersteller Elefanten mit dem "ABC der Kinderfüße" oder Super-RTL mit Malvorlagen und einem Gewinnspiel zu einer Serie namens "Die Oktonauten". Die Agentur Il Piccolino Educationmarketing wirbt sogar damit, dass Kitas Geld verdienen können, wenn sie ein DIN A3 großes Poster mit Werbung aushängen.
Die Agentur Blattwerkmedia stellt sich auf ihrer Webseite als Spezialist für kindgerechte Familienkommunikation dar und wirbt "für Produktsamplings mit Nutzen für alle Beteiligten". Darunter fallen laut eigener Darstellung Spielwaren, Lernuhren, Taschentücher, Lernbücher- und Lernspiele, aber auch Fruchtsnacks, Würstchen, Honig, Ketchup, Zucker. Was an den genannten Lebensmitteln jedoch kindgerecht sein soll, erschließt sich daraus nicht.
Kinder und Jugendliche sind eine beliebte Zielgruppe, denn sie entwickeln Markenpräferenzen, die häufig für viele Jahrzehnte prägend sind. In der Schule oder im Kindergarten verstärke sich dieser Effekt sogar noch, kritisiert beispielsweise die Verbraucherorganisation Foodwatch. Kinder könnten der Werbung nicht aus dem Weg gehen. "Die Marken und Produkte werden zudem von Menschen präsentiert und vermittelt, denen Kinder besonders vertrauen und von denen sie annehmen, in ihrem besten Interesse zu handeln", heißt es von der Organisation.
Martina Flasch aus Frankfurt am Main, inzwischen Mutter eines Grundschulkindes, sieht das Ganze mit gemischten Gefühlen. "Die Kita meiner Tochter hat Dinge des täglichen Bedarfs, wie etwa Sonnenkappen und Sonnencreme von Nivea eingeworben. Das war nett, aber überflüssig, weil die Kinder das schon hatten. Aber wenn ich mir den Zustand in vielen öffentlichen Kindereinrichtungen ansehe, glaube ich, dass man dort auf diese Angebote mittlerweile dringend angewiesen ist." Sie halte es allerdings für bedenklich, wenn Unternehmen eine Lücken füllen, die der Staat, das Land und die Kommunen nicht mehr füllen können.
Die Kita sei ein noch sensiblerer Bereich als die Schule, die Kinder sind viel beeinflussbarer, sagt Gewerkschaftler Norbert Hocke, der früher selbst eine Kita geleitet hat. "Es ist dringend geboten, dass wir Regelungen für den Umgang mit Werbung bekommen und auch Erzieher besser geschult werden", sagt er. Kinder seien heute nirgendwo mehr vor Einflussnahme von Unternehmen sicher, auch nicht in Kindertagesstätten.