Neulich forderte der Europarat, "Vater" und "Mutter" abzuschaffen und stattdessen den Begriff "Elter" für Erzieher beiderlei Geschlechts zu verwenden. Die Meldung blieb mir im Gedächtnis als kurioses Beispiel dafür, wie Behörden und Politiker sich einerseits in unser Familienleben einmischen wollen und andererseits für reale Probleme weder eine Wahrnehmung noch Konzepte haben.
Zwar streiten sich verschiedene Parteien über Kitaausbau, Herdprämien oder Steuererleichterungen, aber viele Mütter hören den Debatten schon lange nicht mehr zu. Nicht bloß, weil sie einfach keine Zeit dafür haben, sondern weil sie die phantasielosen Verbesserungsversuche als Marginalie eines zentralen, ganz anderen Problems heutiger Familienwirklichkeit wahrnehmen.
Dieses zentrale Problem ist die "Fürsorgeoptimierung", mit der wir unsere Kinder und uns selbst ständig überfordern und es nie schaffen, all die Ansprüche zu erfüllen. "Fürsorgeoptimierung" wird als private Angelegenheit und diffuser Stress verortet, da er nicht öffentlich wahrgenommen wird oder es gar eine Debatte dazu gibt. Auch weil wir keinen gängigen Begriff dafür haben, empfinden wir die Zustände als hausgemacht und nicht als allgemeines, gesellschaftliches Phänomen.
Kinder als Glücksversprechen
Seitdem Kinder nicht mehr das zufällige Nebenprodukt eines Geschlechtsverkehrs sind, sondern das sorgfältig terminierte Glücksversprechen im Leben zweier Erwachsener, wird ihre Entwicklung von der Wiege bis zum Abitur gefördert, überwacht und ständig optimiert. Abweichungen von einer vorgeblichen Norm werden sofort therapiert, denn unsere Wunschkinder sollen gefälligst halten, was wir uns von ihnen versprochen haben.
Frühkindliche Förderung beginnt heute schon im Mutterleib mit Pränatal-Yoga, nach der Entbindung geht es zum Babyschwimmen und in die Ergotherapie zum Krabbeltraining. Schon Kleinkinder haben oft drei Kurse die Woche, in die Mütter sie nach dem Kindergarten fahren. Berge an Ratgeberliteratur zu Erziehung, gesunder Ernährung und naturheilkundlicher Medizin werden gelesen und nachts wird nach pädagogisch wertvollem und ungiftigem Spielzeug im Internet gesucht.
Wer bis dahin glaubt, die neuen Mütter litten einfach unter einem Förderwahn, wird mit der Einschulung eines Besseren belehrt. Jetzt zeigt sich: Das System hat Methode, niemand kann sich ihm mehr entziehen. Schon in der Grundschule werden wir aufgefordert, mit den Kindern Lesen, Rechnen und Ausmalen zu üben. Wer bloß die Hausaufgaben kontrolliert und nicht aktiv mitwirkt, wird der Vernachlässigung der Kinder verdächtigt. Wer auf der weiterführenden Schule den Geschichtsstoff der letzten Stunde des Sohnes gerade nicht präsent hat oder wer am Tag vor einer Ex versäumte, die Tochter Vokabeln abzufragen, müsse sich nicht wundern, wenn "sie ihr Klassenziel nicht erreichen", wie eine Lehrerin sagte.
Ob Mittelschule oder teure Privatschulen, ob Bayern oder Berlin - die Schule wird immer mehr ins Elternhaus verlagert. Vormals klar definierte Kompetenzbereiche (zu Hause: charakterliche Erziehung, Schule: Wissensvermittlung) vermixen sich zu einem Stresscocktail aus Machtkämpfen beim Schulstoff-Lernen und der Urlaubsplanung nach anstehenden Tests.
Der Schweizer Kinderpsychologe Remo Largo nennt unsere Erziehung zu Recht "kollektiv hysterisch" und "überfördert". Aber das Problem liegt nicht bloß im Privaten. Alle tragen dazu bei: Eltern, Politik und die erziehenden Institutionen. Die Fürsorgeoptimierung hat sich verselbständigt als gesellschaftliches Phänomen und führt in ihrer Überforderung aller Beteiligten zu gegenseitigen Schuldzuweisungen mit entsprechenden Kriegsschauplätzen.
Manche Eltern gehen mit Anwälten gegen Lehrer wegen einer Note in einer Stegreifaufgabe vor, viele Lehrer bezichtigen Eltern des Versagens und behaupten, soziale Defizite ausgleichen zu müssen. Und es sind keine Ausnahmefamilien mehr, in denen Kinder weinen, weil eine Sechs in Mathe den Wochenendausflug ins Wasser fallen lässt und sie sich dafür schuldig fühlen.
Mütter sind damit unter einen Druck geraten, der neben Job und sonstigen Verpflichtungen kaum mehr auszuhalten ist. Studien des Müttergenesungswerks zeigen, dass sich die Zahl der psychischen Erkrankungen von Müttern innerhalb der vergangenen Jahre verdreifachte. Denn noch immer sind es vorwiegend die Mütter, die zu Elternabenden gehen und die Hausaufgaben machen. Die allgegenwärtige emotionale, finanzielle und zeitliche Belastung des "Muttitasking" verdrängte sogar den Stress der verschiedenen Rollenanforderungen von Frauen (fürsorgliche Mutter, attraktive Partnerin, harte Geschäftsfrau) auf einen hinteren Platz.
Nach Büroschluss noch das kleine Latinum
Der Ruf nach mehr Partizipation der Väter liegt nahe und bekommt auch zunehmend mehr Echo - das wirkliche Problem aber, die Fürsorgeoptimierung, wird damit nicht geringer, sondern verlagert sich nur, mitunter auf willige Männer, die nach Büroschluss noch das kleine Latinum nachholen.
Kinderlose und frühere Generationen unterstellen den Müttern heute gerne individuellen Überehrgeiz, weil sie uns an ihren eigenen Erfahrungen messen und nicht verstehen, dass die Fürsorgeoptimierung mittlerweile ein Standard geworden ist, dem Eltern sich nicht mehr entziehen können. Meine französischen Freundinnen kriegen nicht deshalb im Schnitt mehr Kinder, weil Krippenplätze selbstverständlich sind. Im Gegenteil, sie wünschen sich längere Babypausen, wie Umfragen zeigen. Sie wagen vielmehr Kinder, weil sie nicht dem kollektiven Wahn der Fürsorgeoptimierung ausgesetzt sind und nicht als Erwachsene erneut eingeschult werden.
Die Hauptleidtragenden an der Situation sind aber trotzdem nicht wir Mütter, sondern unsere Kinder. Manche verwahrlosen tatsächlich, weil Eltern so überfordert sind, dass sie sich der Erziehung ganz entziehen. Im "Normalfall" rauben wir den Kleinen eine spielerische, freie Kindheit durch die ständige Überförderung. Durch unsere ständige Kontrolle lassen wir sie keine eigenen Erfahrungen mehr machen und zersetzen das Ideal der Aufklärung, die Erziehung zur Mündigkeit, von innen.
Durch die Messlatten, die wir permanent anlegen, und die Therapien, in denen wir ihre Abweichungen von einer vorgeblichen Norm behandeln lassen, empfinden sich Kinder und Jugendliche heute in einem Ausmaß defizitär, dass wir dem Nachwuchs zynisch empfehlen könnten, einmal Psychologe zu werden, da hätte er langfristig gute Kundschaft.
Politik, Behörden und Gesellschaft sollten aufhören, uns als "Elter" optimieren zu wollen. Eltern sollten den Mut haben, die Kinder wieder freizulassen.
Monika Bittl, 50, ist Schriftstellerin in München. Sie schrieb zahlreiche Romane und Drehbücher. Zusammen mit Silke Neumayer verfasste sie die Bestseller "Alleinerziehend mit Mann" und "Muttitasking".