Unbemerkt Linkshänder:"38 Prozent der Leute nutzen ihr Potenzial nicht"

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Nur etwa zwölf Prozent der Menschen in Deutschland leben als Linkshänder - viele andere vergeudeten ihr Potenzial, sagt Hanns von Rolbeck. (Foto: imago; Bearbeitung SZ)

Fast jeder Zweite ist Linkshänder, die meisten wissen es nur nicht - ihr Hirn muss deshalb mehr als nötig arbeiten, sagt der Arzt Hanns von Rolbeck. Eine oft unerkannte Ursache für Burn-out, Legasthenie und ADHS?

Interview von Larissa Holzki

Der Mediziner Hanns von Rolbeck macht seit Jahrzehnten Untersuchungen zur Linkshändigkeit und ist zu dem Schluss gekommen: Biologisch ist jeder Zweite Linkshänder, die meisten wissen es nur nicht. Nur etwa zwölf Prozent der Menschen in Deutschland leben als Linkshänder. Probleme in der Schule oder schnelle Erschöpfung bei der Arbeit könnten die Folge sein, wenn Menschen ihre Händigkeit nicht ausleben, sagt der Radiologe im Interview am Morgen zum Weltlinkshändertag.

SZ: Herr von Rolbeck, die meisten Menschen schreiben mit rechts, dabei dürfen sich Kinder in der Schule die Schreibhand heute aussuchen. Sie sagen trotzdem, jeder Zweite sei Linkshänder. Wie kommen Sie denn darauf?

Hanns von Rolbeck: Mit welcher Hand ein Mensch kräftiger zugreifen und geschickter arbeiten kann ist davon abhängig, welche Hirnhälfte bei ihm dominant ist. Steuert die linke Hirnhälfte dominant, dann sind sie ein Rechtshänder, Rechtsfüßer, Rechtsäuger und so weiter. Menschen, die links einen Schlaganfall hatten, haben Lähmungserscheinungen auf der rechten Seite. Ich habe die Hirndominanz von 25 000 Menschen von Japan bis Amerika untersucht und eben festgestellt: Sie ist genau gleich verteilt.

Und das entscheidet sich zufällig?

Nein, Links- und Rechtshändigkeit vererbt sich. Die Kinder von zwei Rechtshändern werden Rechtshänder, die Kinder von Linkshändern werden zu Linkshändern und bei einer Linkshänderin und einem Rechtshänder stehen die Chancen 50 zu 50. Nur wissen ja schon viele Eltern nicht, zu welcher Gruppe sie gehören.

Die These ist umstritten. Viele Ärzte und Pädagogen sind der Meinung, die Händigkeit sei nicht angeboren, sondern festige sich erst während der ersten Lebensjahre. Eltern wird geraten, sie sollen den Stift in die Mitte des Blattes legen, damit das Kind entscheiden kann, welche Hand es nimmt. Lässt sich die Händigkeit so nicht herausfinden?

Nur die ganz selbstbewussten Linkshänder werden mit links zugreifen. Die anderen gehen nach dem Prinzip Vorbild und Nachahmung und nehmen die gleiche Hand wie Mama, Papa - oder die Kindergärtnerin. Weil Linkshändigkeit in vielen Kulturen unterdrückt wurde und wird, gibt es vor allem rechtshändige Vorbilder. Erkennen kann man die Linkshändigkeit deshalb eher in Situationen, die das Kind noch nicht kennt und für die es noch keine Verhaltensmuster gelernt hat.

Was wäre denn ein guter Test auf Linkshändigkeit?

Sie könnten ein Kindergartenkind etwa auffordern, rückwärts zu gehen. Dabei können Sie beobachten, mit welchem Fuß das Kind anfängt, mit welchem es unsicherer ist, und das Kind merkt für sich: Mensch, so rum kann ich es besser. Optimal wäre es aber, die Händigkeit schon viel früher festzustellen. Ein sehr kleines Kind können Eltern auf eine Linie stellen, zum Beispiel auf Fliesen, und es dann auffordern, "mach mal die Augen zu und lauf los". Wenn es mit rechts beginnt und nach zwei, drei Schritten unsicher wird oder zur Seite läuft, dann ist das auch ein möglicher Hinweis auf Linkshändigkeit, wenn es mit dem linken Fuß besser klappt.

Was ist das Problem, wenn ein linkshändiges Kind mit rechts malen, schreiben und basteln lernt? Heute werden Kinder schließlich nicht mehr dazu gezwungen.

Die Ergebnisse mit der rechten Hand werden eher ungenau oder unbefriedigend sein, das Kind verliert auch eher die Lust am Tun. Nach einer Umstellung auf links werden sie nach erstaunlich kurzer Zeit mit der linken Hand immer geschickter, schneller und genauer arbeiten können. Zum anderen nehmen diese Kinder Dinge wie Zahlen und Buchstaben häufig mit Wertigkeit auf. Das heißt, für sie sind eins, zwei und drei keine Ziffern, sondern die eins ist besonders gut, die zwei eine schönere Zahl und so weiter. Das führt dann dazu, dass sie sich verrechnen, stottern, nicht fließend oder nur monoton lesen können oder verkrampft schreiben. Bei intelligenten Kindern fällt das oft erst in der dritten, vierten Klasse auf.

Das klingt nach Dyskalkulie oder Legasthenie.

Ich würde bei jedem Kind, von dem es heißt, es habe Legasthenie, Dyskalkulie oder ADHS zuallererst testen, ob es vielleicht ein nicht links lebender Linkshänder ist. Leider sind Kinderärzte wie auch Erzieher und Grundschullehrer dafür nicht sensibilisiert, es fehlt an spezifischer Ausbildung und auch an Zusammenarbeit.

Rechenschwäche
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Dabei sei es möglich, jedem Kind Grundlagen im Rechnen zu vermitteln, sagt ein Mathedidaktiker. Er hält die Rechenstörung für eine Ausrede der Schulen.

Interview von Larissa Holzki

Manche Erwachsene, die als Kind auf die rechte Hand umgeschult wurden, haben damit heute keine Probleme mehr. Kann und sollte man eine nicht gelebte Linkshändigkeit noch im mittleren oder gar höheren Alter umstellen?

Ich rate unbedingt dazu. Das Hirn eines umgedrehten Linkshänders muss im Vergleich zu den Menschen, die ihre angeborene Händigkeit leben, viel mehr arbeiten, wenn derjenige eine körperliche, geistige oder emotionale Leistung erbringen will. Diese Mehrarbeit macht etwa ein Viertel der Kalorien aus, die er isst. Sie müssen sich das mal vorstellen: 38 Prozent der Leute nutzen ihr Potenzial nicht. Wenn Sie einen nicht gelebten Linkshänder unter Ihren Kollegen haben, dann ist der abends erschöpft von der Arbeit, während Sie mit den anderen noch munter zum Kegeln gehen. Im schlimmsten Fall hat er schon frühzeitig ein Burn-out.

Wie schwer fällt Betroffenen die Umgewöhnung?

Wenn sich jemand wirklich um seiner selbst willen umstellen möchte, wird es ihm schnell leichtfallen und Freude machen. Vielen fällt es allerdings schwer, sich erst mal damit auseinanderzusetzen. Ich erwarte übrigens von allen Eltern, die mit ihren Kindern zu mir kommen, dass sie sich mittesten lassen und bei entsprechendem Ergebnis umstellen. Es funktioniert einfach nicht und ist für das Kind auch unverständlich, wenn es selbst aufgefordert wird, als Linkshänder zu leben, während das linkshändige Elternteil seine Linkshändigkeit ignoriert und nicht an der eigenen Umstellung arbeiten möchte.

Hanns von Rolbeck ist Facharzt für Röntgen- und Strahlentherapie und führt eine Praxis für praktische Medizin in Göppingen. Seit 1981 unternimmt er Untersuchungen zur Linkshändigkeit.

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