Unis im Notbetrieb:Ein Semester sondergleichen

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Face to faces: Am Seminar von Martin Böhm an der IE Business School in Madrid können Studierende auch teilnehmen, wenn sie am andern Ort sind. (Foto: Rafa Martin)

Wer forscht, lehrt oder studiert, blickt jetzt ins Ungewisse: Universitäten sind lahmgelegt, Termine fallen flach, Prüfungen stehen infrage. Was Betroffenen in der Corona-Krise Sorgen macht.

Protokolle von Susanne Klein und Bernd Kramer

Bibliotheken schließen, Labore stehen still, gelehrt wird digital, irgendwie, aber ob am Ende alle Klausuren wie geplant geschrieben werden, vermag im Moment niemand zu sagen. WG-Partys oder Fachschaftsfeiern wirken ohnehin wie Dinge aus einer fernen Zeit: Die Corona-Krise legt das Unileben lahm. Und nun?

Die Hochschulrektoren drängen darauf, dass Studierenden keine Nachteile aus der Situation entstehen sollen. Drei Professorinnen preschen mit einem offenen Brief vor, in dem sie fordern, das kommende Sommersemester zum "Nichtsemester" zu erklären. Hunderte Professoren unterzeichnen den Aufruf, aber die drei großen Berliner Unis widersprechen in einer Stellungnahme vehement. Sie halten die Idee "zum jetzigen Zeitpunkt für kontraproduktiv". Aber wenn der Notbetrieb andauert? Was auch immer die nächsten Wochen bringen, das neue Semester wird anders werden als alle bisherigen. Impressionen von Beteiligten in einer unsicheren Lage:

Laura Behrend*, 23 studiert Medizin an der Universität Münster

Laura Behrend (Name geändert) ist Medizinstudentin und lernt für das zweite Staatsexamen. (Foto: privat)

"Seit Weihnachten lerne ich jeden Tag von morgens um sieben bis in den Abend, auch an den Wochenenden. Die Lernphase vor dem zweiten Staatsexamen sieht bei uns Medizinern in der Regel so aus: Wir loggen uns in ein Onlinetool ein und üben mit den Prüfungsaufgaben aus den vergangenen zehn Jahren. 7000 Multiple-Choice-Fragen gibt es, ich mache etwa 100 Fragen pro Tag und lese die Literatur dazu. Lesen, ankreuzen, lesen, ankreuzen, immer im Wechsel nach einem straffen Zeitplan. 90 von 100 Tagen habe ich jetzt, wenn man das Programm konsequent durchzieht, stehen die Chancen gut, das Examen zu bestehen. Die Prüfungen wäre bundesweit Mitte April, sollen aber nun verschoben werden. Nicht um ein paar Wochen wie beim Abitur, sondern um ein ganzes Jahr. Ich sitze lieber mit Mundschutz in der Prüfung, als noch einmal von vorn mit dem Lernen anzufangen. Der Stoff ist sehr speziell, die vielen Details vergisst man mit der Zeit.

Jetzt wird geplant, dass wir Mediziner das zweite Staatsexamen überspringen und direkt ins Praktische Jahr gehen, also ohne schriftliche Prüfung den Ausbildungsteil in den Kliniken absolvieren. Wir wollen ja unbedingt helfen, aber schlüssig ist das nicht: Prüfungen können wegen des Ansteckungsrisikos nicht stattfinden, aber der Kontakt mit Corona-Patienten ist kein Problem? Was, wenn wir selbst krank werden und dadurch Zeit zum Lernen verlieren? Oder wenn wir Zustände wie in Italien erleben - ich kann mir kaum vorstellen, mich dann einfach wieder hinzusetzen und seelenruhig weiterzulernen." *Name geändert

Jens Kurreck, 51, Professor für Angewandte Biochemie im Institut für Biotechnologie der TU Berlin

Jens Kurreck, hier mit einer Kollegin, musste sein Labor schließen. (Foto: Felix Noak)

"Wir arbeiten in unserem Labor mit rund 20 Mitarbeitern mit Zellkulturlinien und gentechnisch veränderten Organismen. Dabei entstehen Organmodelle, etwa für die menschliche Lunge oder Leber, an denen wir medizinisch forschen. Die Rundschreiben, wir sollten uns auf den Shutdown vorbereiten, wurden immer dringlicher. Wir mussten unsere Forschungsaktivitäten abbrechen und die Zellkulturen aus Sicherheitsgründen in speziellen Sterilisatoren abtöten. Geschlossen haben wir das Labor dann am 16. März. Jetzt dürfen nur noch zwei Mitarbeiter mit Sondererlaubnis hinein, um die Stickstofftanks und Tiefkühler zu kontrollieren, in denen die Zellen lagern, die wir für den Neustart brauchen.

Insgesamt verlieren wir die Dauer des Shutdowns plus etwa zwei Wochen, um das Labor wieder hochzufahren. Diesen Verzug werden unsere Geldgeber hoffentlich in ihren Plänen berücksichtigen. An einem unserer Projekte, das nach zwei Jahren in eine Start-up-Gründung münden soll, hängen vier unserer Stellen. Das ist riskant. Wie sollen wir die Ziele pünktlich erreichen, wenn uns am Ende drei, vier Monate fehlen? Bekommen die Mitarbeiter dann entsprechend mehr Zeit - und entsprechend länger Gehalt? Das hoffe ich. Aber die Situation hat auch etwas Positives: Endlich ist mal Zeit, um länger nachzudenken über ein Projekt, um mehr zu lesen, sich neu zu strukturieren. So versuchen wir, das Beste aus der Situation zu machen."

Florian Kappeler, 41, Germanistik-Habilitand an der Universität Göttingen

"Wissenschaftliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wie ich, die befristete Verträge haben, sind unterschiedlich betroffen. Ich kann im Home-Office an meiner Habilitation weiterarbeiten, allerdings mit weniger Zeit, weil ich ein fünfjähriges Kind zu Hause habe, das beschäftigt werden will. Ein Freund von mir hat drei Kinder, da ist es noch enger, denn die Projekte, aus deren Geldern wir bezahlt werden, haben Laufzeiten mit festem Enddatum. Ich engagiere mich im Netzwerk für gute Arbeit in der Wissenschaft, dort werden wir die Forderung einbringen, unsere Verträge um die Zeit zu verlängern, die wir jetzt verlieren.

Das größte Problem haben aber die mehr als hunderttausend Honorarkräfte ohne reguläre Arbeitsverträge, die zumeist Lehrbeauftragte sind. Werden sie arbeitslos, wenn der Lehrbetrieb runtergefahren wird? Werden sie dafür bezahlt, wenn sie jetzt mit sehr viel Mehrarbeit ihren Unterricht digitalisieren? Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die im Ausland forschen und daran jetzt etwa durch Ein- oder Ausreisestopps gehindert werden, haben auch große Sorgen. Der größte Geldgeber, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, will Stipendien bis zu drei Monate lang trotzdem weiterzahlen. Aber wird das reichen?"

Caroline Fagundes, 24, studiert Soziale Arbeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg

Caroline Fagundes fragt sich, ob sie ihr Studium in der Regelstudienzeit schaffen wird. (Foto: privat)

"Wir starten früher als andere Hochschulen, das Semester hatte bei uns schon angefangen. Jetzt sitze ich hier vor dem Plan für unser Methodenseminar: Entwickeln Sie in Gruppenarbeit einen Fragebogen für eine sozialwissenschaftliche Umfrage. In Gruppenarbeit? Wie geht das ohne den direkten Austausch? Für mich können Mails und Chats das schwer ersetzen. Noch unvorstellbarer ist, wie die Prüfungen ablaufen sollen. Auch die Dozenten schreiben in den vielen Mails, die jetzt hin und her gehen, dass sie es eigentlich nicht wissen. In Familienrecht brauchte ich letztes Semester jede Sitzung und jedes Tutorium, sonst hätte ich die Klausur nicht geschafft. Jetzt habe ich Sozialrecht und zweifle, ob ich mir ohne Präsenztermine alles aneignen kann.

Möglich, dass sich mein Studium deswegen verlängert. Aber bekomme ich weiter Bafög, wenn ich über die Regelstudienzeit hinaus studiere? 700 Euro, das ist eine Menge. Mein Nebenjob ist wegen der Krise vorerst weg. Ich mache als Honorarkraft Nachmittagsangebote für verhaltensauffällige Vorschulkinder. Für einige von ihnen habe ich mir ein Karatetraining ausgedacht, weil ich das früher selbst gemacht habe. Durch die Schulschließung fehlen mir jetzt erst einmal ein paar Hundert Euro im Monat. Immerhin hilft die Ausgangsbeschränkung beim Sparen: Es gibt kaum noch die Möglichkeiten zum Geldausgeben."

Achim Meyer auf der Heyde, 67, Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks

Achim Meyer auf der Heyde fordert einen Notfallfonds für Studierende. (Foto: Kay Herschelmann)

"Uns erreichen jetzt viele Fragen von Studierenden: Welche Leistungen können sie in dem verkürzten Semester überhaupt erbringen - und wie wird das Semester beim Bafög angerechnet? Bekommen sie bei Verzögerungen, für die sie nichts können, länger Geld? Und wie finanzieren sie ihren Lebensunterhalt ohne die Nebenjobs, die jetzt wegfallen? Vier von zehn Studierenden brauchen diese Jobs unbedingt. Einiges hat das Bundesbildungsministerium schon beantwortet: Das Sommersemester zählt beim Bafög ab dem 1. April, auch wenn es erst am 1. Mai oder später beginnt. Wir schlagen vor, zudem die Regelstudienzeit und Förderungshöchstdauer zu verlängern, um die Nachteile dieses Semesters auszugleichen. Für den Fall, dass die Regelstudienzeit überschritten wird, weil wegen Corona eine Prüfung ausfällt, hat das Ministerium schon zugestimmt.

Auch wichtig zu wissen: Wir raten Studierenden, deren Eltern keinen Unterhalt mehr zahlen können, weil sie durch Kurzarbeit zu wenig verdienen, sofort einen Bafög-Antrag zu stellen - jetzt könnten sie ein Recht auf Förderung haben. Außerdem plädieren wir dafür, dass der Bund einen Notfallfonds einrichtet, aus dem Studierende unbürokratisch ein Überbrückungsgeld erhalten, wenn sie wegen Corona ihre Jobs verlieren.

Ein Sonderfall sind Studierende, die jetzt im Gesundheitssystem helfen. Hier hat das Ministerium mitgeteilt: Einkünfte aus dieser Tätigkeit werden nicht wie andere Jobs aufs ganze Bafög-Jahr angerechnet, sondern nur für diesen Zeitraum. In den übrigen Monaten fließt das Bafög ganz normal. Solche schnellen Lösungen brauchen wir jetzt."

Martin Böhm, 42, Professor für Marketing und Dekan der IE Business School in Madrid

Martin Böhm ist Professor und Dekan an der IE Business School in Madrid, die digital gut aufgestellt ist. (Foto: Rafa Martin)

"300 unserer 4000 Studierenden kommen aus Deutschland, die meisten sind bereits nach Hause gereist. Wir sind hier zwar mitten im Semester, aber Madrid ist ein Corona-Hotspot, viele hatten Angst, dass die Grenzen schließen oder Flüge nicht mehr gehen. Jetzt studieren sie von Deutschland aus bei uns weiter. Wir haben schon Anfang März begonnen, unsere Seminare als Livestream anzubieten, und wurden dann schnell von der Realität eingeholt, am 11. März mussten alle Unis schließen. Nun sind wir komplett digital, alle sitzen zu Hause und treffen sich in einem virtuellen Klassenzimmer.

In der Uni haben wir einen Raum mit einer riesigen Videowand, auf der ein Professor alle 50, 60 Teilnehmer sehen und das Gefühl haben kann, mit ihnen zu interagieren. Sehr schön, aber jetzt reicht ein Raum nicht mehr, deshalb haben wir unsere Plattform so weiterentwickelt, dass Professoren die Studierenden statt auf der Videowand nun auf ihrem Fernseher zu Hause sehen können, während sie auf dem Laptop ihre Folien zeigen und den Chat mit Fragen managen. Wir schätzen, dass es bis Semesterende so weitergeht, wir also auch alle Prüfungen online anbieten müssen, damit jeder das Semester abschließen kann, egal wo er jetzt ist. Mancher fragt sich: Und was, wenn mitten in der Klausur meine Internetverbindung abbricht? Das könnte allerdings eher mal unsere Studierenden aus Afrika oder Südamerika betreffen. In Deutschland ist das Netz deutlich stabiler.

Wolfgang Scheitz, 21, studiert Betriebswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München

Wolfgang Scheitz wünscht sich mehr virtuelle Vorlesungen. (Foto: privat)

"Bis zum Januar war ich zum Auslandssemester in Quebec in Kanada. Die Vorlesungen wurden dort online systematisch aufbereitet, meist sogar mit einer Aufzeichnung der Vorlesung. Digitale Lehre ist dort selbstverständlich. Und hier? Meine Fakultät hat jetzt angekündigt, dass ein Teil der Sommersemester-Veranstaltungen online stattfinden soll. Wie das funktioniert, weiß aber niemand so genau, ich habe zumindest nichts gehört. In vier Semestern an der LMU saß ich bisher erst in zwei Vorlesungen, die mitgeschnitten worden sind. Und das nur, weil die Professoren sehr engagiert waren, nicht weil es ein generelles Digitalkonzept gäbe. Dabei wäre das ein so toller Weg, die Lehre zu ergänzen.

Die Vorlesungen zur Empirischen Ökonomie zum Beispiel habe ich mir zu Hause zur Wiederholung in eineinhalbfacher Geschwindigkeit angesehen. Und manchmal merkt man ja erst bei der Nachbereitung, was man während der Veranstaltung nicht verstanden hat. Wie großartig wäre es da, noch einmal virtuell in die Vorlesung zu gehen, und das nicht nur in Zeiten von Corona. Die Uni München rühmt sich, eine Exzellenzuni zu sein. Aber ich finde es erschreckend, wie wenig in dem Bereich in den vergangenen Jahren passiert ist."

Andrea Geier, 47, Germanistik-Professorin an der Universität Trier

Andrea Geier plädiert für ein "Nichtsemester". (Foto: privat)

"Die Lage ist offen und im Wandel. Diese Formulierung ist konsensfähig. Doch was schließen wir daraus? Seit der Semesterbeginn an vielen Universitäten verschoben wurde, geht das Schlagwort von der Digitalisierung um. Manche nennen sie eine "Chance". Die Krise als Chance: Das ärgert mich. Pragmatische Fragen sind viel wichtiger: Inwieweit kann unter den gegenwärtigen Bedingungen - geschlossene Bibliotheken, kurze Vorbereitungszeit, fachspezifische Anforderungen - Präsenzlehre durch digitale Lehre ersetzt werden? Welche Angebote können die Studierenden überhaupt wahrnehmen? Wer hat welche Ressourcen? Wie ermöglichen wir Sicherheit und Flexibilität für alle? Um diese Debatte voranzutreiben, habe ich gemeinsam mit den Professorinnen-Kolleginnen Paula-Irene Villa Braslavsky und Ruth Mayer einen Offenen Brief formuliert. Wir appellieren an die Entscheider*innen in Politik und Wissenschaft, das Sommersemester als ein "Nichtsemester" zu werten und damit sicherzustellen, dass keinesfalls den sozial prekär lebenden Studierenden aus dem In- und Ausland, befristet Beschäftigten und Lehrenden auf Hochdeputatsstellen die meisten Opfer abverlangt werden. Wir haben eine Ausnahmesituation: Lasst sie uns solidarisch, fair und für möglichst viele möglichst produktiv gestalten."

© SZ vom 30.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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