Umstrittene Schulreform:Verflixtes neuntes Jahr

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In NRW machen gerade Absolventen des G8 und des G9 gemeinsam Abitur. Damit ist der Umbau bundesweit im Großen und Ganzen geschafft, der Streit um die Schuldauer könnte verebben - doch das tut er nicht. Politik und Eltern forcieren meistens das frühere Modell, Schüler und Lehrer sind gespalten. Eine Bestandsaufnahme.

Von Johann Osel und Roland Preuß

Manchmal musste die Sporttasche zu Hause stehenbleiben, vor allem vor Klausuren fiel das Handballtraining für Tobias Westers schon mal aus. Stattdessen hieß es für den jungen Mann: Stoff nachholen, etwa die Herleitung einer Formel in Physik. Die eine Hälfte in seinem Kurs hatte das schließlich ausführlich behandelt, in neun Jahren Gymnasialzeit (G9) - den jüngeren Schülern des achtjährigen Modells (G8) dagegen legte der Lehrer die heimische Nacharbeit ans Herz. Ohnehin waren die Schuljahre davor oft stressig, die sechste, siebte, achte Klasse, sagt Tobias Westers. Stressiger jedenfalls als für seinen Bruder Benedikt, der ein Jahr mehr hatte für den gleichen Stoff.

Tobias und Benedikt Westers aus Emsdetten in Nordrhein-Westfalen haben gerade Abitur gemacht, am selben Gymnasium, im selben Jahrgang - doch Tobias, seit Kurzem volljährig, im G8, Benedikt, der bald 20 wird, noch nach der G9-Variante. In der zehnten Klasse wurden die Jahrgänge verschmolzen, zunächst in den Nebenfächern, jüngst brüteten ältere und jüngere Schüler zusammen über den Klausuren.

Das große Streitthema der Schulpolitik, bei den Westers ist es Alltag. Doch beide sind zufrieden mit ihrem Weg. Neun Jahre, das war angenehm, sagt der Ältere, er habe ja gesehen, dass sein Bruder stets mehr machen musste. "Ein Jahr schneller fertig, das hat schon Vorteile", meint der Jüngere. Und so schlimm sei das Turbo-Abitur, im Nachhinein gesehen, nicht gewesen. Westfälische Coolness, eine etwas trockene Unaufgeregtheit. Oder anders formuliert: Welches Modell nun der Königsweg ist - da wissen die Brüder nicht so recht Rat.

Von Gelassenheit keine Spur

Den Bildungspolitikern geht es nicht anders: Vor gut einem Jahrzehnt hatten die Länder fast einhellig befunden, dass deutsche Schüler im internationalen Vergleich zu alt seien, wenn sie an die Hochschule oder in den Beruf kommen. Sie haben sich vom neunjährigen Gymnasium verabschiedet und erste G8-Jahrgänge aufs Gleis gesetzt.

Das G9 lief außer in Rheinland-Pfalz (dort wird die Kurzvariante nur an Ganztagesschulen angeboten) in allen Westländern aus, nun steht ein doppelter Jahrgang im bevölkerungsreichsten Land NRW an. Man könnte die Reform als abgeschlossen betrachten. Eigentlich. Denn von der Gelassenheit der Brüder Westers - keine Spur.

Nach Eltern- und Schülerprotesten erlebt das Abitur nach 13 Schuljahren gerade eine Renaissance. Die G8-Debatte findet kein Ende. Die Regierungen können die Klagen über Belastungen durch das Turbo-Abi kaum ignorieren. Wenngleich noch kein Land generell zum alten Abitur zurückgekehrt ist, bewegt sich daher viel.

SPD will Popularität des alten Modells nutzen

Im grün-rot regierten Baden-Württemberg streiten sogar die Koalitionäre darüber. Dort bietet man den Ausweg der "Modellschulen", an 44 Gymnasien können Eltern ihre Kinder in der fünften Klasse für G8 oder für G9 anmelden. Für das kommende Schuljahr entschieden sich gut 90 Prozent für das Abitur nach neun Jahren. Die SPD will die Popularität des alten Modells nutzen. Fraktionschef Claus Schmiedel positioniert sich schon mal für die Wahl und fordert noch mehr G9-Gymnasien. Der grüne Partner lehnt das ab.

In Hessen ist das Bild ähnlich: Im Herbst kehren 40 der 107 staatlichen Gymnasien zum G9 zurück, elf weitere bieten längere und kürzere Dauer parallel an. Dabei hatte das Land bereits ein Angebot für G8-skeptische Eltern: Fast 180 Gesamtschulen bieten ohnehin ein neunjähriges Abitur an.

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