Übertrittszeugnis:Wie Schulempfehlung und soziale Selektion zusammenhängen

Am 4. Mai bekommen die Viertklässler an Bayerns Grundschulen ihre Übertrittszeugnisse (hier finden Sie die wichtigsten Fragen und Antworten zum Übertritt). Ein Notendurchschnitt von 2,33 (oder besser) aus den Zensuren in Mathematik, Deutsch und Heimat- und Sachunterrricht berechtigt ohne weitere Aufnahmetests zum Gang auf das vom Gros der Eltern bevorzugte Gymnasium.

Über diese verbindliche Schulartempfehlung streiten Bildungsexperten seit vielen Jahren. In mehreren Bundesländern zählt beim Übertritt auf die weiterführenden Schulen ausschließlich der Wille der Eltern. Forscher Klaus Klemm erklärt im Interview, warum er eigentlich gegen die aktuelle bayerische Praxis ist, das Vorgehen aber trotzdem für alternativlos hält.

Interview von Matthias Kohlmaier

SZ: Herr Klemm, Sie plädieren für eine bindende Schulempfehlung beim Übertritt von der Grundschule auf die weiterführenden Schulen. Warum?

Klaus Klemm: Ich würde es etwas differenzierter formulieren. Die bindende Schulempfehlung wird in der öffentlichen Debatte meist als sozial-selektive Maßnahme wahrgenommen - gegen diese Einschätzung wehre ich mich. Im Gegenteil: Je mehr der Übergang von der Grundschule an die weiterführenden Schulen an Noten gekoppelt ist, desto weniger sozial-selektiv ist es. Je bildungsnäher eine Familie ist, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sich Eltern über die Empfehlung des Grundschullehrers hinwegsetzen. Das Ärzteehepaar wird seine Kinder also mit größerer Wahrscheinlichkeit aufs Gymnasium schicken, auch wenn die Grundschule sie dafür nicht für geeignet hält. Wenn aber ein Kind aus dem Arbeitermilieu oder mit Migrationshintergrund gesagt bekommt: "Das reicht nicht fürs Gymnasium!", werden sich die Eltern kaum über dieses Urteil hinwegsetzen.

Warum ist das so?

Bildungsferne Familien neigen eher dazu, die Autorität des Lehrers und der Schule als gegeben hinzunehmen und sich nicht dagegen aufzulehnen. Unverbindliche Schulempfehlung und freier Elternwille bei der Wahl der weiterführenden Schule tragen so dazu bei, dass die soziale Schere weiter auseinandergeht. Im politischen Diskurs heißt es zwar oft, die bindende Schulempfehlung schade Schülern aus niedrigen sozialen Schichten, ich halte meine Interpretation aber für weitaus einleuchtender.

Heinz Reinders von der Universität Würzburg hat in einer Studie herausgefunden, dass die Ungewissheit über die Schulzuweisung bei Kindern massiven Stress auslösen kann. Ein weiteres Argument gegen die bindende Empfehlung.

Von Anfang der Grundschule an stehen die Kinder unter Druck, das stimmt. Ihr müsst gut sein, damit ihr aufs Gymnasium könnt, heißt es immer wieder. Wir sprechen hier tatsächlich von der Mehrheit der Eltern, die diesen Weg unbedingt gehen wollen und dabei den Stress der Kinder in Kauf nehmen. Früher war Nachhilfeunterricht ein Instrument, das eingesetzt wurde, wenn das Sitzenbleiben drohte. Heute bekommen viele Grundschulkinder trotz guten Notenschnitts bereits Nachhilfe.

Sind Schulleistungen in Form von Noten überhaupt ein sinnvolles Mittel, um die Eignung eines Viertklässlers für die weiterführende Schule zu prüfen?

Schulnoten sind ein sehr wenig belastbares und subjektives Instrument. Es passiert häufig, dass ein Lehrer eine bestimmte Leistung als gymnasialtauglich empfindet, während ein Kollege das ganz anders sieht. Es gibt Experimente zum Thema, bei denen Lehrern vor der Bewertung von Aufsätzen von Viertklässlern gesagt wurde, die Väter der Schüler seien zum Beispiel Ärzte oder Bauarbeiter. Die Arztkinder bekamen bessere Noten.

"Das Sortieren nach der vierten Klasse ist in jedem Fall zu früh"

Wie ließe sich der Übertritt objektiver gestalten?

Wenn es nach mir ginge, gäbe es das Problem gar nicht. Schüler würden nach der vierten Klasse weiterhin gemeinsam unterrichtet und je nach Begabung durch individuelle Betreuung gefördert. So war die Gesamtschule ursprünglich geplant. Leider wurde sie dann als weitere Schulform neben den bestehenden Schulen eingeführt. Das Sortieren nach der vierten Klasse ist in jedem Fall zu früh. Mein Kollege Jürgen Baumert hat für eine Studie Viertklässler mit ähnlichen Voraussetzungen über Jahre begleitet und festgestellt: Die, die aufs Gymnasium kamen, hatten sich bis zur neunten Klasse deutlich besser entwickelt als die, die auf Real- oder Hauptschule gewechselt waren. Trotz ähnlicher Voraussetzungen hängt die Entwicklung eines Kindes stark von einem fördernden und fordernden Umfeld ab. Dennoch bin ich mir im Klaren, dass die Idee der Gesamtschule in Deutschland in absehbarer Zeit nicht umgesetzt werden wird.

Warum?

Der Zug ist schlicht abgefahren. Als die Quote der Schüler, die aufs Gymnasium wollten, zu Beginn der siebziger Jahren noch bei etwa 20 Prozent lag, da hätte man den Umbruch wagen können. Heute drängen etwa 50 Prozent der Kinder aufs Gymnasium. Wer nun am System rühren wollte, hätte sofort mit heftigem Widerstand von deren Eltern zu kämpfen - davor wird sich die Politik hüten.

Bleibt die Frage, welche validen Instrumente man verwenden könnte, um Kinder sinnvoll auf Gymnasium, Real- und Hauptschule zu verteilen.

Wenn es ein solches Instrument gäbe, durch das Schüler wirklich ihren Leistungen und Perspektiven entsprechend auf die Schularten verteilt werden könnten, wären meine Argumente für die Gesamtschule deutlich schwächer.

Sind Sie nun für oder gegen die bindende Empfehlung?

Im Grundsatz bin ich dagegen. Man darf aber nicht mit der Begründung argumentieren, damit würden die Bildungsfernen benachteiligt. Und solange sich kein Weg findet, die Schüler besser zuzuordnen als anhand ihrer Schulnoten, solange halte ich die bindende Schulempfehlung durch die Lehrkräfte trotz aller Schwächen und Gegenargumente für einen geeigneten Weg.

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