Übertritt ins Gymnasium:Die gefürchtete Zahl: 2,33

Ihn erhofft man, vor ihm fürchtet man sich, deswegen weint oder kämpft man. Der Wahnsinn "Übertritt". Seit die Schultüte ausgepackt wurde, kennt man diesen dramatischen Termin: Wer schafft es auf das Gymnasium? Wer nicht? Viertklässler werden derzeit irre, Eltern hysterisch und Lehrer laut.

Gerhard Matzig

Am Ende, als gar nichts mehr half, kein Bitten und kein Drohen, erhielt sie Hausverbot. Sie durfte nun ihren Sohn nicht mehr tagtäglich nach Schulschluss aus der vierten Klasse abholen. Vor allem aber durfte sie bei dieser Gelegenheit nicht mehr in den Schulheften der Mitschüler herumschnüffeln, um herauszufinden, ob ihr Sohn besser ist als der Soundso. Oder, Gott bewahre, schlechter. Das ist die eine Geschichte.

Übertritt aufs Gymansium

Vielen Grundschülern graut vor dem Schulstress in Sachen Übertritt - den Eltern und Lehrern ebenso.

(Foto: dpa)

Eine andere ist diese: ein Mann, eine Frau, eine spielende Tochter am Strand, weit weg von Deutschland. Es ist einer der letzten Ferientage vor dem neuen Schuljahr. In glänzender, sonnenmilchhafter Laune liest die Frau eine Tageszeitung aus der Heimat und verkündet ihrem Mann mit Blick auf den Wetterbericht: "Seit Wochen haben wir hier nur Sonne. Und daheim regnet es die ganze Zeit. Haben wir ein Glück!" Ja, könnte man meinen - aber der Mann antwortet nur: "Wie man's nimmt. Wenn es die ganze Zeit geregnet hat, dann konnten sich die Schüler, die nicht weggefahren sind, ja wunderbar auf das neue Schuljahr vorbereiten. Die sind jetzt im Vorteil - und unsere Tochter hat nur am Strand gespielt. Das kann sie ja gar nicht mehr aufholen. Und im nächsten Jahr ist doch Übertritt."

Dieser Vater, diese Mutter: Sind die wahnsinnig?

Ganz bestimmt. Papa und Mama sind aber auch das immer alltäglicher werdende Produkt eines immer bizarrer werdenden Systems. In diesem System, es ist eine Art Bildungs-Turbokapitalismus im Amok, werden aus Lehrern Monster gemacht, aus Eltern werden Psychopathen und aus Jungen und Mädchen, die neun oder zehn Jahre alt sind, werden delirierende Post-Pisa-Schock-Insassen von Grundschulen, die nicht länger als Bildungs- oder Lehranstalten bezeichnet werden können. Es sind Besserungsanstalten.

Es geht darum, dass unsere Kinder dort besser werden. Besser im Rechnen, besser im Lesen und Schreiben, besser im Heimat- und Sachkundeunterricht. In Mathematik, Deutsch und HSU erhalten die Kinder gegen Ende der vierten Grundschulklasse, also in ein paar Wochen, je eine Note. Die zählt man zusammen und teilt sie durch drei. In Bayern gilt: Wenn 2,33 (oder weniger) herauskommt - dann "darf das Kind", wie es auf einer Ratgeber-Internetseite namens "Note1plus" heißt, "ohne Probeunterricht auf das Gymnasium übertreten".

Wie gesagt, das gilt in Bayern. In anderen Bundesländern gilt anderes. Teilweise haben die Eltern anderswo das Wahlrecht, welche Schule das Kind nach der Grundschule besuchen soll. Das mindert zwar zunächst den Übertrittsdruck, aber trotzdem müssen die Eltern begründen, warum das Kind aufs Gymnasium gehen soll, wenn die Noten nicht ganz so toll sind. Typischerweise tun das in den Bundesländern, in denen das Elternrecht gilt, vor allem die Akademikereltern. Es gibt Studien, die deshalb sogar zum Schluss kommen, dass die soziale Ungerechtigkeit steigt, wenn man beim Übertritt den Eltern die Macht gibt: Der Notenstress mag dann etwas sinken - aber davon profitieren vor allem die abstiegsverängstigten Bildungsbürger.

Zurück nach Bayern, zurück zu Note1plus: Bei einem Schnitt von 2,66 wäre eine "weitere Aufnahmeprüfung" zu bestehen, was die schlechte Nachricht ist, weil man mit einem dermaßen unterirdischen Notenschnitt, der sich beispielsweise aus zwei 2ern und einer 4 ergibt, mit dem Stempel "nicht geeignet" abgeurteilt wird.

Man weint und droht

Eine gute Nachricht gibt es aber auch: Mit 2,66 "darf das Kind" ohne weitere Aufnahmeprüfung sofort auf die Realschule übertreten - denn dafür ist man nun durchaus "geeignet", während die Kinder mit 3,0 auch hier "nicht geeignet sind", aber wenigstens eine weitere Aufnahmeprüfung ablegen können. Was mit Kindern geschieht, die hier durchfallen - oder die im Durchschnitt schlechter als 3,0 sind: Darüber ist zu schweigen. Aus Scham oder weil man sich derart schlechte Noten nun mal nicht vorstellen kann. Weshalb auch das böse Wort "Hauptschule" nicht erwähnt werden sollte - auch nicht in seiner neuesten bayerischen Verkleidung als "Mittelschule". In ein paar Jahren wird diese Mittelschule vermutlich Oberschule heißen, um nach einigen weiteren Jahren in Allerobersteschule umbenannt zu werden. Trotzdem wird es immer die Nichtgeeignetschule bleiben, Verwahrungsort für Schüler, die nicht in ein Note1plus-Land mit AAA-Rating passen.

Niemand will das. Alle wollen auf das Gymnasium. Deshalb muss man zum Übertritt hin gut sein, man muss 2,33 sein, mindestens also 2minus. Aber 1plus wäre natürlich besser - es nimmt ja auch nicht jedes Gymnasium jeden. Daher muss man als Viertklässler spätestens jetzt noch mal richtig Gas geben. Und die Lehrer, Eltern oder Nachhilfelehrer auch: Alle müssen noch mal so richtig ran. Was sie eigentlich schon seit der Einschulung tun. Denn seit die Schultüte ausgepackt wurde, kennt man diesen dramatischen Termin: den Übertritt.

Ihn erhofft man. Vor ihm fürchtet man sich. Deswegen weint man. Um ihn kämpft man - notfalls vor Gericht. So werden wir alle immer besser, besser, besser. Damit unsere Kinder besser das Gymnasium erreichen. Um dort wiederum eine bessere Ausbildung zu erhalten, um daraufhin eine noch bessere Hochschulausbildung und dadurch einen besseren Job zu bekommen, somit ein besseres Gehalt, eine bessere Zukunft und ein besseres Leben. Vielleicht auch einen besseren Partner, mit dem man bessere Kinder haben kann, um den Besserungsanstalten neues, besseres Material zuzuführen.

Traum und Albtraum zugleich: Das ist der verdammte Übertritt, der das "Über" aus "Überlegensein" in sich trägt - wie auch den "Tritt", den man erhält, wenn man es nicht packt. Kein Wunder, dass alle irre werden: Der Tag der Entscheidung ist nah. Der Übertritt ist hierzulande - im Ausleseland, im Gesiebtwerdenreich - eine Art Armageddon, eine endzeitliche Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse, zwischen guten und schlechten Schülern, zwischen guten Gymnasiasten und dem Rest.

Wer ist für diesen ganzen Wahnsinn verantwortlich? Erst mal natürlich die Kultusbürokratie. Hier läuft ja eigentlich alles schief. Das weiß man. Dann die unfähigen Lehrer, die immer nur Ferien machen, nicht wahr, die dauernd krank sind oder unfähig als Pädagogen. Klar, das hat sich auch rumgesprochen. Dann gewiss die Schüler selbst, weil zu doof, sich ab der 1a bis zur 4d auf gute Noten zu konzentrieren. Wie sollen die mal als Hochleistungsmanager, Spitzenbanker oder Bildungsminister ihre Leistung abrufen, wenn sie das jetzt schon nicht draufhaben? Ist sonst noch wer schuld? Das System? Sowieso. Die Eltern?

Nein, das kann nicht sein, die leiden ja am meisten unter dem apokalyptischen Übertritt, sie beaufsichtigen jeden Tag die Hausaufgaben, geben Nachhilfe, googeln die neuen Regeln des Subtrahierens, besuchen sämtliche Tage der offenen Tür an sämtlichen Gymnasien, die in Frage kommen für die weitere Karriere ihrer Liebsten, sie verhören zudem diese Liebsten, um herauszufinden, ob sie Humanisten, Neusprachler oder Naturwissenschaftler sind, ob sie musisch oder wenigstens sportlich sind, sie besprechen sich mit der Bank wegen der Finanzierung der Kosten einer Privatschule und lassen ihre Kinder wegen des Verdachts auf einen IQ von 160 untersuchen. Außerdem kaufen sie einige Regalmeter Pädagogikratgeberliteratur und abonnieren das Magazin Focus Schule, welches sie "als kompetenten Navigator durch den Bildungsdschungel" nutzen.

Zuletzt sorgen sie sich am Strand in den Ferien um das Wetter daheim, weil das Wetter daheim möglicherweise einen Wettbewerbsvorteil für die Kinder anderer Menschen darstellen könnte.

Nein, die Eltern sind unschuldig, sie sind doch die Opfer unseres Schulsystems. Oder sind die Kinder die Opfer - und wir, die Eltern, die Täter? Einiges spricht dafür.

Da ist die Diskussion in der Grundschule, ob man die verbale Beurteilung in der ersten Klasse ("arbeitet nicht immer konzentriert mit") zu Lasten des Ziffernnotensystems ("4") ausbauen sollte. Fast alle Eltern sind dafür, eine Mutter aber ist dagegen. Sie findet, dass sie mit Ziffern "besser den Leistungsstand" ihres Kindes "kontrollieren" kann. Außerdem, fügt sie hinzu, wäre es hilfreich, wenn die Lehrer auch den Gesamtnotenschnitt der Klasse veröffentlichen würden. Die Kontrolle ist dann noch umfassender. Gut ist auch der Vergleich mit skandinavischen oder chinesischen Schulen. Dadurch wissen wir, wo wir international stehen - und können immer wieder mal angesichts aktueller Erhebungen in Panik geraten.

Dann ist da noch dieser Vater, der auf die Frage, wie das Referat seines Sohnes über das Mittelalter lief, antwortet: "Super. Wir haben eine 1 bekommen." Wir? Ein "sehr gut" im Mittelalter-Referat - powered by Daddy? Wir? Gleich fragt er: "Und was habt ihr?" Ja, geht's noch?

Die Kinder müssen büßen

Doch, es geht noch härter, das findet der Vater einer Zweitklässlerin, der sich in der ersten Woche bei der Klassenlehrerin vorstellt mit dem Hinweis, das Zeugnis im ersten Jahr sei nicht akzeptabel gewesen. Nun, mit Blick auf den baldigen Übertritt in drei Jahren, müsse das besser werden. Das Kind sei ja hochintelligent. Und als Vater, übrigens sei man Rechtsanwalt, werde man sich jetzt mal wehren - es stehe die Zukunft des Kindes auf dem Spiel. Dann sagt er noch zur Lehrkraft: "Sonst mach' ich Sie fertig."

Das sehen die Eltern eines Drittklässlers in gewisser Weise ähnlich, nur machen sie ihren eigenen Sohn fertig: Seitdem er im Rechtschreiben eine erste 3 bekommen hat, erhält er zweimal die Woche Nachhilfe. Die boomende Nachhilfebranche hat längst schon das Terrain der Grundschule erobert. Es steht die Zukunft auf dem Spiel. Die der Kinder - und die des Landes. Wir sind ja ein Wissensstandort, wie man weiß, weshalb wir offenbar Kinder als leere Gefäße betrachten, wie geschaffen, um dort dieses wichtige Wissen zu bunkern. Also schütten und stopfen wir es hinein, das Wissen, und geben ihm ein Prüfsiegel (2,33) zur baldigen Weiterverarbeitung auf dem Gymnasium.

Kontrolle: Wer Schulkinder hat, der weiß, dass die Eltern schon längst dem Kontrollwahn verfallen sind. Die Hausaufgaben werden kontrolliert, die Noten werden kontrolliert, die Leistung der Lehrer wird kontrolliert, die Qualität der Schule wird kontrolliert, die Leistung anderer Eltern wird kontrolliert: "Der Vater von gegenüber büffelt jeden Tag eine Stunde Mathe mit der Tochter - und was tust du? Kümmere dich wenigstens um die Aufsätze!" Keine Frage, dass auch der Schulweg kontrolliert wird. Konnte der tägliche Fußweg früher schon im Kindergartenalter zugemutet werden (wobei so den Kindern auch Vertrauen ausgesprochen und Selbstvertrauen eingegeben wurde), so werden heute auch noch Viertklässler bis zur Schulbank transportiert. Die Eltern organisieren sich dazu Fahrgemeinschaften.

Auch immer öfter anzutreffen: Kinderhandys mit eingebautem GPS, also mit dem Global Positioning System, das man aus dem "Navi" kennt. Das Kinderhandy bietet unter anderem diese Funktionen an: "Hineinhören im Notfall", "Tracking für die Schulwegkontrolle" oder "Standortüberwachung". Merkwürdigerweise scheint die Entwicklung vor allem auf zwei grundverschiedene Elterntypen hinauszulaufen: auf jene Eltern, die ihr Kind, das sie als Projekt betrachten, überbehüten, die akribisch die Schulkarriere planen und statt Vater oder Mutter nur der Coach zum Übertritt sind; und jene, die gar nicht wissen, wo genau die Schule ist, die ihr Kind besucht.

Schon in einer Schrift des Pädagogen Janusz Korczak aus dem Jahr 1918 ("Wie man ein Kind lieben soll") heißt es: "Aus Furcht, der Tod könnte uns das Kind entreißen, entziehen wir es dem Leben." Doch inzwischen haben wir nicht nur Angst vor dem Tod, sondern auch Angst vor dem Schulweg, vor den Noten, vor den Lehrern, vor dem Schulsystem - und natürlich vor dem Übertritt. Und es ist unsere Angst, die wir kultivieren und schließlich auch unseren Kindern zumuten, die wir kaputtkontrollieren und zur Leistung antreiben, zur Unselbständigkeit erziehen und fit machen für jene Burn-out-Gesellschaft, deren Opfer wir schon lange sind.

Wir sind es, die Angst haben - vor dem Abstieg, vor dem Versagen, vor dem Leben. Unsere Kinder büßen dafür.

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