Übertritt aufs Gymnasium:Abitur der vierten Klasse

Übertrittsstress weiterführende Schulen, Gymnasium

Büffeln für den Übertritt: Der Wechsel auf eine weiterführende Schule ist für viele Schüler mit Stress verbunden.

(Foto: dpa/dpaweb)

Bei vielen Grundschuleltern liegen die Nerven blank: In wenigen Wochen gibt es Zeugnisse, die den Weg aufs Gymnasium ebnen - oder versperren. Deshalb schicken Eltern ihre Viertklässler in spezielle Lerntrainings. Oder suchen den Weg zum Anwalt.

Von Kathrin Schwarze-Reiter

Yannick stockt die Stimme. Er muss schlucken, bis er weitersprechen kann. "Es war das härteste Jahr meines Lebens", sagt der Fünftklässler. Ernste Worte für einen Elfjährigen. Yannick ist im vergangenen Jahr nicht krank gewesen, er hat keinen guten Freund verloren, keinen Schicksalsschlag erlitten - es war der Übertritt auf die weiterführende Schule, der ihm so zusetzte. Dieser entscheidet über das ganze weitere Leben; so empfinden es zumindest viele Grundschüler und ihre Eltern.

Anfang Mai ist es in Bayern wieder so weit, dann wird nach dem Aschenputtelprinzip sortiert: Die Guten aufs Gymnasium, die etwas weniger Guten auf die Realschule, die Schlechten auf die Hauptschule.

"Meine Grundschullehrerin fand, dass ich in die Hauptschule gehöre", erinnert sich der Junge aus dem bayerischen Markt Schwaben. Er hat es dann auf die Realschule geschafft, musste nicht auf die Hauptschule: "Dort wollte ich auf keinen Fall hin, weil da so viele schlimme Jungs sind, aus denen nichts Gescheites wird." Der Junge, der nie ein sonderlich guter Schüler war, legte plötzlich richtig los und lernte bis zum Umfallen.

Pauken, feilschen, klagen: Die Wahl der Laufbahn macht Eltern und Kinder oft verrückt

Die Grundschüler wissen über den geforderten Notenschnitt oft besser Bescheid als ihre Eltern: 2,33 oder 2,66 - diese Hürden muss man in Bayern nehmen, um den Sprung auf das Gymnasium beziehungsweise auf die Realschule zu schaffen. Yannick findet das gerecht, obwohl er so darunter gelitten hat: "Man muss sich halt mehr anstrengen. Wenn man nicht gut genug ist, gehört man nicht aufs Gymnasium oder auf die Realschule." Eine vergeigte Klassenarbeit kann da eine Katastrophe sein: "Wenn Yannick mal eine Vier heimbrachte, war das ein herber Rückschlag", sagt seine Adoptivmutter, Daniela Messing.

"Er büffelte, dass einem Hören und Sehen verging." Die Eltern unterstützten freilich den Eifer, schickten Yannick zu einem professionellen Nachhilfeinstitut. Schon Drittklässler werden mit Nachhilfe fürs Gymnasium oder die Realschule getrimmt, Eltern feilschen mit Lehrern um Kommastellen bei den Noten. Pädagogenverbände erkennen längst eine "Übertritts-Hysterie", als "Königsweg" gelte vielen Vätern und Müttern das Gymnasium. Der gesellschaftliche Trend beflügelt das: Gut die Hälfte eines Jahrgangs erreicht inzwischen die Hochschulreife, der Hauptschulabschluss zählt immer weniger, die Mittlere Reife leidet schon im Ansehen.

Das "Grundschul-Abi" ist so oft das Ende der Lernfreude. Dies zeigt eine Langzeitstudie mit 400 Eltern-Kind-Paaren, bei der unter anderem die Pädagogische Hochschule Zürich federführend war: Der Spaß an der Schule nimmt beginnend mit dem Übertrittsstress bis zur achten Klasse stetig ab. Auch das Selbstvertrauen in einzelnen Fächern leidet, immer weniger Schüler trauen sich zum Beispiel in Mathe etwas zu. Schuld daran, zumindest zum Teil: "Ungünstige Übertrittserlebnisse".

Sortierung per Notenschnitt - ein Auslaufmodell

Immer mehr Kultusministerien wollen ihren Landeskindern dies ersparen. Mehr als die Hälfte der Länder sind nach und nach von der strengen Sortierung per Notenschnitt abgerückt. Hier zählt allein der Elternwille - die Lehrer geben nur "Empfehlungen" ab. Teils gibt es Einschränkungen, so darf mancherorts nur ein Kind mit Empfehlung für den Mittleren Abschluss auch aufs Gymnasium. Andernorts gibt es am Gymnasium für Kinder mit abweichender Prognose Probejahre.

Auch Bayern, einer der strengsten Verfechter des Übertrittszeugnisses, nahm sich das zum Vorbild und wertete 2009 die Elternmeinung auf: Wer die Notenhürde reißt, darf seither an einem Probeunterricht oder an Tests an der Wunschschule teilnehmen. Diese gelten als bestanden, wenn man in Deutsch und Mathematik die Noten drei und vier erzielt. Bei zwei Vieren entscheiden wiederum die Eltern. Zehn Prozent eines Jahrgangs versuchen so ihr Glück. Erfolgschancen: fünfzig Prozent. Jeder zweite Probeschüler schafft es laut Ministerium auf die Wunschschule.

Schluss mit dem Stress ist bei Probephasen trotzdem nicht, er verschiebt sich lediglich ins fünfte Schuljahr. Bayerns Ressortchef Ludwig Spaenle betonte erst kürzlich die Relevanz des Notenschnitts: "Wenn die Leistung gering geschätzt wird, dann entscheidet allein die Herkunft über die Schulkarriere", schrieb der CSU-Politiker in einem Beitrag in der Wochenzeitung Die Zeit. Noten könnten daher "ein realistisches Bild der Leistungsfähigkeit und der Potenziale der Schüler zu bestimmten Zeitpunkten vermitteln".

Option: Kämpfen

Bleibt den Eltern die Option: Kämpfen. Der auf Schulrecht spezialisierte Rechtsanwalt Christian Birnbaum erlebt Eltern, die sich mit allen Mitteln gegen das Lehrerurteil wehren: "Ich bekomme deutlich mehr Anfragen, was man machen kann, damit das Kind doch noch aufs Gymnasium kommt." Meist muss er sie enttäuschen. Um gar nicht klagen zu müssen, setzen viele Eltern teils schon früh an: Sie schicken ihre Kinder in spezielle Übertrittstrainings.

Die Nachfrage ist riesig, auch Jutta Pudenz könnte am privaten Bildungszentrum "Wir machen Bildung!" noch mehr Kurse füllen. Manche Eltern fragten schon in der zweiten Klasse an. Einst war Pudenz Leichtathletiktrainerin, nun trimmt sie Grundschüler. Acht Viertklässler büffeln bei ihr zweimal wöchentlich Deutsch, Mathe, Sachkunde. "Doch die wichtigste Übertrittsfähigkeit, die ich ihnen beibringen muss, ist Selbstvertrauen", sagt Pudenz. "Nach schlechten Noten und großem Druck ist davon häufig nicht mehr viel übrig."

Wenn sie die Kinder wieder aufgebaut hat, klappt es auch mit der Wunschschule: Bisher hätten alle ihre Schützlinge den Übertritt geschafft. "Ich erlebe aber sehr ungeduldige Väter, die voraussetzen, dass es ihr Kind aufs Gymnasium schafft. Die Mütter sind oft überbehütend und machen sich große Sorgen." Pudenz versucht den Eltern klarzumachen, was zu hoher Druck anrichten kann. Die Kinder seien danach häufig wie erlöst - und schafften den Übertritt aus eigenem Antrieb. Wer sich den Wechsel auf seine Wunschschule vornimmt, wird es, je nach Schulform, mit einer Wahrscheinlichkeit von bis zu 80 Prozent auch schaffen, belegt auch die Studie der Pädagogischen Hochschule Zürich.

Bei Yannick war es vor allem sein eigener Ehrgeiz, der es ihm schwer machte. Doch auch er lernte, den Eifer umzulenken. "Plötzlich entdeckte er, dass es auch Freude machen kann, Leistung zu erbringen", erinnert sich Adoptivmutter Daniela Messing. Viel hat er davon in die Realschule mitgenommen. So bleibt ihm neben den Hausaufgaben auch Zeit für Fußball. Nach dem schrecklichen Jahr in der Grundschule, sagt Yannick, sei er glücklich dort.

Nachlassen will er aber auf keinen Fall - sonst könnte im schlimmsten Fall doch noch der Wechsel auf die Hauptschule drohen.

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