Süddeutsche Zeitung

Udacity-Gründer Sebastian Thrun:Revolutionär von tausend Jahren Uni-Geschichte

Lesezeit: 7 min

Aus Solingen ins Silicon Valley: Sebastian Thrun wird als einer der einflussreichsten Intellektuellen gehandelt. Der deutsche Forscher hat nicht nur Googles fahrerloses Auto entwickelt, er ist auch der Gründer der Online-Universität Udacity. Zehntausende aus aller Welt belegen seine Kurse.

Von Christine Brinck

Sebastian Thrun trägt Lederschuhe. Das ist ungewöhnlich im Silicon Valley, wo die jungen Milliardäre mit Flipflops und Turnschuhen beweisen, dass sie nicht zur Wirtschaft des vergangenen Jahrhunderts gehören. Ansonsten aber passt er sehr gut hierher, er ist höflich und freundlich, hört gut zu, antwortet präzise. Kalifornische Umgangsformen eben.

Dieser Mann will nun die Universität umkrempeln, wie wir sie seit tausend Jahren kennen, wie sie aus den Domschulen von Paris und Bologna hervorgegangen ist. Auch dafür taucht er in den Hitlisten der einflussreichsten Intellektuellen, die amerikanische Ostküstenmagazine gerne aufstellen, als einziger Deutscher regelmäßig auf.

Thrun wurde vor 46 Jahren in Solingen geboren und ist zunächst in Hildesheim zur Uni gegangen. Davon merkt man nicht mehr viel. An der Stanford University ist er ein Star unter den Robotics-Forschern und ein Star der Artificial Intelligence. Seine Kurse sind stets überbucht. Thrun steckt auch hinter dem fahrerlosen Auto von Google. Dort verbringt er mehr Zeit als in seiner Fakultät. Deshalb hat er 2011 seine Lebenszeit-Professur aufgegeben, lehrt nur noch hin und wieder.

Zu Google war es dann nur noch ein Katzensprung

Wie kommt ein Junge aus Solingen nach Stanford? So, wie es andere ambitionierte und hochbegabte Informatiker, Mathematiker und Ingenieure aus aller Welt nach Stanford schaffen, dem Epizentrum des Silicon Valley. Irgendwann fallen sie auf, mit einer Veröffentlichung, einem Vortrag, einer scheinbar wahnsinnigen Idee. So landete Thrun nur zehn Jahre nach seiner Promotion an der Universität Bonn auf einem Lehrstuhl in Stanfords Department für Computerwissenschaften. Zu Google war es dann nur noch ein Katzensprung - zehn Kilometer südwärts nach Mountain View.

Seit zwei Jahren beschäftigt er sich nicht mehr nur mit fahrerlosen Autos, sondern mit dem scheinbar unglamourösen Stoff wie Didaktik. Die will er ins Digitalzeitalter bringen: Wie können wir die Lehre, die seit tausend Jahren in ihrem Kern gleich geblieben ist, so revolutionieren, dass nicht nur die paar Glücklichen in Stanford oder Harvard von ihr profitieren, die dafür dort 50.000 Dollar pro Jahr bezahlen?

2011 gründete Thrun Udacity, eine neue Form der Online-Universität. Das kühn geschwungene U im Namen steht für university sowie für das u, das in der Twitter-Sprache "you" bedeutet. Der Rest ist die Verkürzung von audacity - Wagemut.

Udacity ist ein klassischer Start-up

Was bringt einen erfolgreichen Robotiker dazu, einen Lehrstuhl in dieser privilegierten Stanford-Universität aufzugeben, die wie ein Country Club aussieht, aber 39 Nobelpreisträger beherbergt, um den Rest der Welt mit einer Top-Uni für alle zu beglücken? Thrun sagt, er löse gern große Probleme, wie die Bildung zu demokratisieren. Außerdem lerne er gern. "Gern lernen ist nicht unbedingt die Stärke der deutschen Universität. Wie denn auch - mit fünf Professoren für 1500 Studenten?" Wie aus dem Trott ausbrechen, wenn die Professoren Eigenständigkeit nicht unbedingt fördern? Das Valley, sagt Thrun, funktioniert anders. Wagemut werde belohnt. Udacity ist ein klassischer Start-up.

Udacity erstreckt sich über eine weitläufige Etage im zweiten Stock eines neuen Bürohauses. Viel Teppich, viel Licht, viel Platz, viele Computer, Tafeln und Tische, auf denen man wie auf Tafeln schreiben kann. Tischfußball, Fahrräder, Golfschläger stehen herum. Jemand liegt auf einem Sofa und denkt nach. In einer Ecke steht eine Art Zelt für Arbeitsgruppen. Mittendrin befindet sich die Küche, offen nach allen Seiten. Dort kann man sich bunte Cup Cakes backen oder einen Bagel mit Cream Cheese schmieren.

Die Mitarbeiter wirken durchweg jung und gut gelaunt. Viele sind Grafiker und Software-Designer. Die Online-Lehre soll umwerfend aussehen. Das Verspielte, scheinbar Unstrukturierte täuscht, gearbeitet wird unter Hochdruck, auch wenn der Ton kollegial-studentisch wie auf einem Campus ist. Und der Startup ist längst durchgestartet. Ein paar Tage vor dem Besuch hat der Udacity-Gründer einen gewaltigen Deal an Land gezogen: einen Online-Masterkurs in Computer Science für die hoch angesehene Technische Hochschule von Georgia, Georgia Tech. Mit im Boot ist der Telekomriese AT&T.

"Ich will selber etwas Neues lernen"

Der Online-Masterkurs soll am Georgia Tech neben dem Präsenzstudium angeboten werden - schon ab Januar 2014. Das wirft eine quälende Frage auf, die auf alle Online-Angebote zutrifft. Wie will Georgia Tech die Präsenzstudenten weiterhin für 45.000 Dollar zum Master führen, wenn die Onliner den gleichen Abschluss mithilfe von Udacity für 7000 Dollar kriegen?

Da werden sich Thrun und seine Kreativen noch etwas einfallen lassen müssen, ebenso die für den Inhalt Verantwortlichen von Georgia Tech und die Finanzverwalter sowieso. Noch stellt sich das Problem nicht, noch ist alles ein großer Laborversuch. Momentan sagt Thrun: "Ich will selber etwas Neues lernen und mich auf etwas einlassen, wo ich mich nicht so auskenne. Die nicht ganz einfache Frage ist doch, ob man ein tausend Jahre altes System ins 21. Jahrhundert bringen kann."

Udacitys größter Markt waren bis jetzt Auffrischerkurse in Technologie, Physik, Mathematik, es steht auch eine Einführung in Psychologie im Angebot. Die ersten Erfahrungen sammelte Thrun vor allem an der San Jose State University mit Online-Nachhilfekursen für Studenten, die durch ein Jahres-Examen gefallen waren. Im California State University System kommen dabei immerhin 40.000 Durchgefallene zusammen. Thrun sagt: "Es fließt so viel Geld in diese Nachhilfe-Programme, dass man damit glatt einen weiteren Campus für das staatliche Uni-System von Kalifornien aufmachen könnte." Zunächst waren die Udacity-Kurse gebührenfrei. Mittlerweile kosten sie eine kleine Gebühr, insbesondere, wenn man einen Schein oder eine Prüfung haben will, die zensiert und überwacht werden.

Zunächst buchten ihn 58.000 Neugierige

Wenn Thrun von der Demokratisierung höherer Bildung spricht, meint er auch nicht "Stanford für alle", sondern Studenten, die an den Community Colleges (mit ihrem Zwei-Jahres-Studium) nicht lernen können, was sie wollen, weil es einfach nicht genug Studienplätze gibt. Allein in Kalifornien seien das Zehntausende, sagt Thrun. "Das ist ein großes gesellschaftliches Problem, das Innovation fordert. Viele Studenten bekommen nicht die Ausbildung, die ihnen zusteht." Außerdem spricht Udacity mit seinen Kursen die Lernwilligen in Asien und Afrika an. "Wir versuchen eben, Leute außerhalb des gängigen Systems zu erreichen", sagt Thrun.

Im großen Stil gelang ihm das mit seinem AI-Kurs vor fast zwei Jahren. Zunächst buchten ihn 58.000 Neugierige, nach einigem Getwitter kamen über 160.000. Stolz resümiert Thrun, er habe mit diesem Online-Kurs mehr Studenten erreicht als in zwei Jahrzehnten klassischer Lehrtätigkeit. Riesige Zahlen, gewissermaßen das "M" in MOOCs (massive open online courses) sind das Markenzeichen der neuen Uni-Welt. Doch massiv sind bis jetzt vor allem die Zahlen der Studienabbrecher. Forscher, die mit Fernlehre vertraut sind, ob per Brief oder Online, kennen das Grundproblem seit Jahrzehnten: Wie die Weit-weg-Studenten bei der Stange halten? Thruns 160.000 schmissen massenhaft hin. Doch 23.000 hielten durch, und nicht wenige schnitten auch sehr gut ab.

Freilich glaubt Thrun schon ein Gegenmittel gefunden zu haben, das die Verluste minimieren könnte. Er kennt die kurze Aufmerksamkeitsspanne der Jungen, die von SMS zu Twitter, von Facebook zu Youtube hüpfen und nur kleine Infohäppchen schlucken. Also hat er die Kurse vollgestopft mit knappen Quizfragen zum gerade Gelehrten, damit aus dem Gelehrten das Gelernte wird. Hinzu kommt eine ganze Palette von Kontakten mit anderen Studenten in den Foren und mit Mentoren und Tutoren.

Nun geht es um einen echten Universitätsabschluss

Anders als die Online-Programme der etablierten Top-Unis hatte Thrun für Udacity bisher nicht die traditionellen Studenten im Sinn gehabt. Nun aber, seit der Deal mit Georgia Tech und AT&T einen klassischen Masterkurs anbietet, geht es um einen echten Universitätsabschluss.

Thrun, der vor zwei Jahren noch die tausend Jahre alte Universität überflügeln wollte, glaubt inzwischen allerdings, dass die Online-Bildung nicht die Lehre von Angesicht zu Angesicht ersetzen wird und soll. Durch seine Erfahrung mit den 23.000 unkonventionellen Studenten, die seinen AI-Kurs "mit Gewinn bestanden haben", kam er auf die Idee, "die Dynamik verändern" könne. "Hey, man braucht doch nicht 10.000 mehr oder weniger identische Mathematik-Kurse in den USA, vielleicht brauchen wir nur zwanzig. Und die kann man online richtig gut machen." Sogar besser. Wie? "Man wird online nicht gezwungen, alle Studierenden mit der gleichen Geschwindigkeit mitzunehmen. Man kann im eigenen Tempo lernen, man kann mehr üben, ausprobieren und spielen, statt nur zuzuhören."

Es grämt den Mathematiker Thrun, dass auch lernwillige Mathematikstudenten "durch die Ritzen fallen, weil sie an der Vermittlung scheitern". Da sieht er die große Chance der Online-Lehre. Er kennt in Stanford eine Mathematikerin, die es schafft, selbst die größten Mathehasser umzudrehen und von der visuellen und intuitiven Schönheit der Mathematik zu überzeugen. "Das geht fast verloren", bedauert Thrun. "In jedem Fall lernt man Mathematik mehr durch Üben als durch Zuhören". Und das wiederum funktioniere online besser als im Seminarraum.

Der menschliche Kontakt und das Mentoring sind entscheidend

Kann es auch in den Geisteswissenschaften funktionieren? Thruns erste Antwort klingt genervt: "Gegenwärtig ist mein Ehrgeiz, ein wirklich gutes Matheprogramm zu machen." Dann etwas nachdenklicher: "Der Glaube, dass Bildung durch ein Computerprogramm ersetzt werden kann, ist ein Mythos. Der menschliche Kontakt und das Mentoring machen den entscheidenden Unterschied bei den Lernergebnissen aus."

Für das Georgia-Tech-Masterprogramm plant Udacity neben den üblichen Kontakten in online-Foren drei Stunden face time - persönlichen Kontakt - per Student und Kurs. Für Diskussion, Beratung und Evaluation. Gut möglich, sagt Thrun, dass sich diese Zahl noch ändern wird. Anderseits sind drei Stunden eher die Obergrenze an einer Präsenzuniversität, viele Studenten müssen sich mit weniger zufrieden geben.

Das Geschäftsmodell der US-Universitäten knirscht schon

Als echter Silikon-Valley-Typ rechnet Thrun bei allem Enthusiasmus auch mit dem Scheitern. "Das gehört zur Innovation dazu", sagt er, "aber wir können aus unseren Fehlern lernen, um dann weiterzumachen". Dann kehrt er zu seinem Hauptgedanken zurück: "Es geht um die Studenten, die wir nur online erreichen können, die sonst nicht diese Chance hätten. An ihnen und ihrer Karriere werden wir gemessen werden."

Doch nicht nur an denen. Wenn es klappt, wird die Tertiär-Bildung tatsächlich revolutioniert. Zum ersten Mal geht es nicht um eine einzelne Starvorlesung oder einen einzelnen Kurs. Ein Master in Computer-Science am hochrenommierten Georgia Tech für ein Fünftel des normalen Preises und das, ohne sich ein Zimmer mieten zu müssen? Keiner weiß bis jetzt genau, wie die Bewerber ausgewählt werden sollen und wie viele der Online-Master-Kurs überhaupt anzieht. Einige reden von 10.000, Thrun tut das nicht.

Gespannt sein darf man auf das Nebeneinander von Online und Campus in jedem Fall. Das Geschäftsmodell der großen US-Universitäten, die mit Gebührenerhöhungen seit Jahrzehnten der Inflation davonlaufen, knirscht jedenfalls schon.

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Quelle:
SZ vom 26.09.2013
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