SZ-Serie "Schaffen wir das?", Folge 7:Die Schule als Auffangnetz für Flüchtlingskinder

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(Foto: Illustration Jessy Asmus)

230 000 Kinder und Jugendliche sind seit 2015 als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Wie lässt sich verhindern, dass sie die Verlierer von morgen werden? Besuch in zwei Schulen.

Reportage von Susanne Klein, Jena, und Paul Munzinger, Herne

Die Container erzählen die Geschichte dieser Schule. Man sieht die weißen Kästen schon von der Straße aus, sie stehen am Rand des Schulhofs. Noch wird drinnen gehämmert und gebohrt. In ein paar Tagen, wenn die Herbstferien um sind, sollen die vier neuen Klassenzimmer der Erich-Fried-Gesamtschule in Herne fertig sein, dann ziehen dort die Oberstufenschüler ein. Einen anderen Platz für sie gibt es nicht, die normalen Gebäude sind zu klein. Das liegt auch an den vielen Flüchtlingen, die Stephan Helfen, der Schulleiter, unterbringen muss. Er hat das gerne gemacht, aber: Für ihn sind sie die Leidtragenden des Schulsystems. Eine "ungeheure Traurigkeit" nimmt Helfen unter diesen Kindern wahr. Und dann spricht er ein Wort aus, das so gar nicht zum Ziel der Integration passen will: "Abschulen."

Integration in Deutschland

Dieser Text ist Teil der SZ-Integrationsserie "Schaffen wir das?". Alle Folgen der Serie finden Sie hier.

Der starke Zuzug der Flüchtlinge seit 2015 sei "eine neue Herausforderung" gewesen, sagt er. Alle Schulen in Herne, der Stadt im Ruhrgebiet mit knapp 160 000 Einwohnern, hätten sich dieser Aufgabe damals gestellt und in großer Zahl geflüchtete Kinder aufgenommen: Gymnasien, Realschulen, Gesamtschulen. Aber das sei vorbei. In ganz Herne mussten in diesem Sommer 190 Schüler die Gymnasien und Realschulen mangels Perspektive verlassen. "Abschulen" ist das unschöne Wort dafür.

Nicht alle, aber der Großteil dieser Kinder sind Flüchtlinge, sagt Helfen. Nach zwei Jahren habe sich die ursprüngliche Verteilung damit erledigt, nun greife die "Selektionsfunktion" des Schulsystems, die Kinder werden sortiert. "Ein verhängnisvoller Mechanismus", sagt Helfen. Etwa 50 neue Schüler kamen an seine Schule. Deshalb stehen jetzt die Container auf dem Hof. Er tut, was er kann. An ihm und seiner Schule jedenfalls liegt es nicht, wenn nun alles noch schwieriger wird.

"Ja, wir wollen das schaffen, aber wir wissen nicht, wie weit wir kommen"

1000 Schüler lernen an der Gesamtschule, die alle drei Schulabschlüsse bis hin zum Abitur anbietet. 80 Prozent aller Schüler haben einen Migrationshintergrund. Es gibt drei Sozialarbeiter und drei Integrationslehrer, die sich vor allem ums Deutschlernen kümmern. In Herne, sagt Helfen, habe man viel Erfahrung mit Migration und gute Strukturen; ein Integrationszentrum etwa berate neu angekommene Familien und gebe Tipps, welche Schule für ihre Kinder die beste ist.

  • Merkel hat vor drei Jahren gesagt: "Wir schaffen das!" Was ist aus den Flüchtlingen geworden, die seit 2015 geblieben sind? In der Serie "Schaffen wir das?" gibt die SZ jede Woche Antworten.

Nun aber mussten viele Flüchtlingskinder nach nur zwei Jahren ihre Klassen schon wieder verlassen, als Gescheiterte. Sie sollen an anderen Schulen Fuß fassen. Helfen spricht von einer "Desintegrationserfahrung". Nicht nur bei jenen, die hinzugekommen sind, sondern auch bei denen, die schon da sind. Denn die 50 neuen Schüler wollte Helfen natürlich nicht einfach in zwei neue Klassen pressen, sie wären nahezu reine Flüchtlingsklassen geworden. Also haben sie alle siebten Klassen aufgelöst und neu gemischt. "Man kann sich vorstellen, was das für einen Jahrgang bedeutet, so komplett auseinandergerissen zu werden." Viele Gespräche seien nötig gewesen, mit Schülern und Eltern. Das habe leidlich geklappt, sagt Helfen. "Auf der Hundewiese" aber, also dort, wo sich die Leute treffen und miteinander reden, habe man auch anderes gehört: dass die Schulen wegen der Flüchtlinge den Bach runtergingen. Dass die Flüchtlinge schuld seien, wenn die Kinder in den Container müssen.

Die "Generation 2015", sagt Helfen, die Kinder, die mit der großen Fluchtbewegung vor drei Jahren aus Syrien und anderen Ländern kamen, habe man bis jetzt gut durch die Schule gebracht. Am Hauptschulabschluss etwa sei bis auf eine Ausnahme bislang niemand gescheitert. Aber das, "was jetzt auf uns zukommt", die Kinder, die aus ihren Realschulen und Gymnasien gerissen und an seine Schule geschickt wurden, "schaffen wir nicht mehr", sagt Helfen. Er wünscht sich, dass diese Schulen weiter mit den Jugendlichen arbeiten und eine "Kultur des Behaltens" etablieren. Solange das nicht so sei, befürchtet er, "dass wir uns eine Hypothek einhandeln, die uns noch zu schaffen machen wird".

Simon Morris-Lange vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration versteht solche Sorgen. Die aus seiner Sicht entscheidende Frage: Wie lässt sich verhindern, dass die Flüchtlinge von heute die Bildungsverlierer von morgen werden? Mindestens 230 000 Kinder und Jugendliche sind seit 2015 als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, schätzt der Bildungsforscher. Knapp die Hälfte von ihnen im Grundschulalter, das hätten die Schulen "gut gemeistert", sagt er. Aber die Älteren hätten oft große Lücken in ihrer Schulbildung. Pädagogen könnten diese Lücken mit ihrem "beachtlichen Engagement" nach und nach füllen - wenn die Jugendlichen nicht nur an Schulen landen, die ohnehin schon viele benachteiligte Schüler mit schwachen Deutschkenntnissen haben. "Ja, wir wollen das schaffen, aber wir wissen nicht, wie weit wir kommen", beschreibt Morris-Lange die vorherrschende Stimmung an den Schulen. Er selbst setzt auf eine "weiterhin wachsende Lernkurve" der Schulen und lobt die vielen Lehrer, die sich fortbilden. Auch die Leistungskurve der geflüchteten Schüler werde langsam ansteigen, glaubt er. Das müsste allerdings erst wissenschaftlich erforscht werden.

Die Lobdeburgschule ermutigt

So ernüchtert Schulleiter Helfen in Herne jetzt ist, so positiv sind andere Erfahrungen. 400 Kilometer weiter östlich, in Jena, steht eine der vielen Schulen, deren Beispiel ermutigt: die Lobdeburgschule.

Dort kommt Jens Kohlrusch mal eben rasch auf den Schulflur, um von Ali zu erzählen. Wie der mitten im Schuljahr in seine fünfte Klasse gesteckt wurde, und Kohlrusch sauer war, weil er vorher nichts davon wusste. "Für die Schüler war es aber kein Ding", sagt der Lehrer und nickt zu der Tür, hinter der diese Schüler sitzen, nur, dass sie inzwischen Achtklässler sind. "Ali kam, wurde sofort gemocht und war nach drei Tagen ganz selbstverständlich in der Klasse." Im Nachhinein war es gut, dass er ahnungslos war, sagt Kohlrusch. "Hätte ich die Schüler vorbereitet, passt mal auf, da kommt ein Flüchtling, der hat es schwer gehabt, der spricht noch nicht viel Deutsch, dann hätten alle geguckt: Wer kommt da denn jetzt?" Aber so war Alis Ankunft einfach nur Alis Ankunft.

Diese Aufgeschlossenheit der Schüler und Lehrer ist an der Lobdeburgschule einer von vielen Schlüsseln des Erfolgs. Die Gemeinschaftsschule hat große und kleine Schlüssel für die Aufnahme von Flüchtlingskindern, ihre durchlässige Struktur zählt zu den großen: Die Schule führt durch alle zwölf Schuljahre, alle Abschlüsse sind möglich. Wer für das Abitur mehr Zeit braucht, macht die zehnte Klasse zweimal. Dass Schüler wie Ali aus ihrer erschwerten Schulbiografie etwas Gutes herausholen können, liegt auch an dieser Struktur. Die strenge Sortierung des dreigliedrigen Schulsystems, das Kinder leicht abstürzen lässt, greift hier nicht. Aber auch der spezialisierte Sprachunterricht, die Sozialarbeiterin und das Engagement der Lehrer zählen zu den großen Schlüsseln. Und die beiden Kriterien, die Integrationsforscher Morris-Lange hervorhebt, wirken hier ebenfalls: die Verteilung der neuen Kinder auf die Schulen und die soziale Zusammensetzung ihrer Schülerschaft.

Ali Mohammad, der heute 15 Jahre alte Schüler von Kohlrusch, ist einer von zehn Afghanen an der Lobdeburgschule. Auch 42 Syrer und neun Iraker lernen hier. Wie Ali kamen die meisten von ihnen 2015 nach Deutschland, oder im Jahr davor oder danach. 61 Kinder und Jugendliche aus den drei Hauptfluchtländern - das ist nicht viel, gemessen an den 760 Schülern, die jeden Tag in das Gebäude strömen.

Sylke Dziomber, die Schulleiterin, ist darüber froh. Die Schule sei "noch im Gleichgewicht". Ein Drittel der Schülerschaft gilt wegen des geringen Einkommens der Eltern als sozial benachteiligt, neben den Kindern aus Flüchtlingsfamilien haben 20 Prozent einen Migrationshintergrund. An Brennpunktschulen in Städten wie Köln oder Berlin herrschen wesentlich schärfere Bedingungen. Aber auch die Lobdeburgschule steht nicht auf dem Hügel der Reichen, sondern am Rand eines riesigen Plattenbaugebiets: In den Hochhäusern von Neulobeda in der thüringischen Universitätsstadt Jena finden Normalverdiener noch eine Bleibe. 23 000 Menschen leben hier, auch Ali und seine Familie.

Es gibt viele Schlüssel zur Integration. "DaZ" ist so etwas wie der Zentralschlüssel

"Ich heiße Ali" und "Wo ist die Toilette" konnte Ali an seinem ersten Schultag im Januar 2016 sagen, viel mehr nicht. "Trotzdem haben alle sofort mit mir geredet", erzählt der Junge mit dem offenen Lachen. Ali ließ sich bereitwillig hineinwerfen in die neue Sprache und das neue Milieu. Das hat ihm vieles erleichtert. Schule sei "der Integrationsmotor schlechthin", sagt Morris-Lange. Wenn ein Schüler jedoch nicht lernen, nicht dazugehören will, geht diesem Motor der Treibstoff aus. Ali ist in Englisch und Mathe mittlerweile ein Einser-Schüler, in Physik beinah auch, in Deutsch hat er eine Drei. Aber ohne DaZ wäre er wohl nicht so schnell so weit gekommen.

DaZ, das steht für Deutsch als Zweitsprache und wird von bundesweit gesuchten Spezialisten unterrichtet. Sechs, sieben Stunden hatte Ali anfangs pro Woche, im Schuljahr drauf noch drei, dann eine. "Toll, viel gelernt und Spaß gehabt", sagt er. Gespielt wurde in seiner Sprachlerngruppe nämlich auch.

DaZ ist so etwas wie der Zentralschlüssel für die Integration. Besonders in Thüringen und Nordrhein-Westfalen, wo Schüler wie Ali keine Willkommensklassen, sondern sofort den normalen Unterricht besuchen - weil man sie nicht ausgrenzen will. In der Grundschule lässt sich das bewerkstelligen, doch danach wächst der Rückstand zu den Mitschülern mit jedem Jahr erheblich. Schüler anderer Bundesländer bleiben daher oft bis zu zwei Jahre lang unter sich, um gezielt Deutsch zu lernen. Selbst mit dieser Vorbereitung sei es zugewanderten Jugendlichen kaum möglich, dem Fachunterricht der weiterführenden Klassen zu folgen, klagen Pädagogen. Die erforderliche Bildungssprache samt all der Fachbegriffe zu erwerben, dauere fünf bis sieben Jahre. Mithilfe von DaZ versucht man, aus dieser Situation das Beste zu machen. 150 zusätzliche DaZ-Lehrer arbeiten inzwischen in Thüringen, den ersten hatte sich 2014 die Lobdeburgschule erkämpft.

Zu diesen Spezialisten zählt Claudia Fischer. Die Deutsch- und Spanischlehrerin wusste, ohne das zweijährige Zusatzstudium würde sie "die eigene Sprache als Zweitsprache, quasi als Fremdsprache" nicht optimal weitergeben können. Wie alphabetisiere ich 14-Jährige? Wie vermittle ich Inhalte ohne gemeinsame Sprechgrundlage? Welche Kulturbesonderheiten muss ich kennen? Solche Fragen hat das Studium ihr beantwortet.

"Ich brauche ein Elternhaus, das für unsere Schule und ihre Werte aufgeschlossen ist"

Auch die Sozialarbeiterin Vera Omar erlebt täglich, wie wichtig die Sprache ist. Vier Schulen betreut sie in Jena, darunter die von Ali. Omars Schlüssel zur Integration: Sie spricht Arabisch und weiß, was sie will. Zum Beispiel, Eltern die neuen Regeln beibringen: pünktlicher Unterrichtsbeginn, Mädchen im Schwimmunterricht, Klassenfahrten. "Man muss vermitteln und zeigen, wie es geht." Vertrauen die Eltern der Schule, tun es auch die Kinder, sagt Omar. Sylke Dziomber, die Schulleiterin, drückt es so aus: "Ich brauche ein Elternhaus, das für unsere Schule und ihre gesellschaftlichen Werte aufgeschlossen ist." Diese Akzeptanz, auch von deutschen Eltern, ist ein Pfeiler der Integration. Wenn Vera Omar mitkriegt, dass zugewanderte und deutsche Kinder miteinander spielen und sich zu Hause besuchen, dann weiß sie: Hier funktioniert das Ankommen.

Seine Freunde sind für Ali nach der Familie das Wichtigste. Drei Jenaer Jungs und er, der Neu-Jenaer. Zu Hause schauen sie Filme an, in der Stadt hängen sie rum. Klar, gute Noten zählen auch, aber nicht ganz so viel wie bei Alis Bruder. Mahdi ist ein Feingeist, er sagt Sätze wie diesen: "Das Wort Integration macht bei mir ein Licht im Kopf an, es heißt, man bekommt Chancen". Er war 19, als er in die zehnte Klasse der Lobdeburgschule kam.

"Abschulen" ist für Mahdi und Ali kein Thema. 2019 steht auf Mahdis Plan das Abitur. Danach will er studieren und Ingenieur werden. Auch Ali peilt die Hochschulreife an. Von Deutsch als Prüfungsfach haben die Lehrer ihnen allerdings abgeraten: zu schwer für DaZ-Schüler. Dass man in Thüringen im Abitur kein Deutsch machen muss, ist ein Glück für sie.

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Reinhard Kastorff

SZ-Serie "Schaffen wir das?", Folge 6
:"Wie Widerstandskämpfer im eigenen Land"

Reinhard Kastorff hilft Flüchtlingen - als einer von Millionen Ehrenamtlichen, ohne die es im Sommer 2015 wohl nicht gegangen wäre. Manche politische Entscheidung findet er "wirklich dumm".

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