SZ-Europa-Atlas zu Spanien:"Alle studieren - aus Angst, abgehängt zu werden"

Students take a university entrance examination at a lecture hall in the Andalusian capital of Seville

Spanische Studenten bei einer Prüfung: Viele junge Spanier treibt die Krise in die Hörsäle

(Foto: REUTERS)

Uni als Hoffnung in der Krise: In Spanien studieren so viele junge Menschen wie in kaum einem anderen Land der EU. Sie hoffen auf eine Perspektive für die Zukunft. Und träumen von Jobs in Deutschland.

Von Karin Janker, Madrid

"Ich möchte gerne in Stuttgart leben - dort ist doch Porsche, oder?", sagt Luis Téllez und schaut fragend seinen Kumpel an. Der nickt. "Also entweder Stuttgart oder Ingolstadt - wegen Audi." Luis Téllez war noch nie in Deutschland, aber er weiß, wo die Autos gebaut werden. Und er hofft, später dort arbeiten zu können. Der 23-jährige Spanier studiert Luftfahrtingenieurwesen an der Universidad Politécnica in Madrid. An den Wochenenden jobbt er, um den Deutschkurs am Goethe-Institut zahlen zu können: "An der Uni ist das Niveau in den Deutschkursen zu niedrig."

Er will schneller vorankommen als seine Kommilitonen, um nach dem Studium für ein paar Jahre in Deutschland zu arbeiten. "Oder für immer", festlegen will er sich da nicht. "Ein Freund von mir hat sofort einen Job in Deutschland gefunden - obwohl er nicht einmal der Beste in seinem Jahrgang war", erzählt er. So ähnlich stellt er sich seine Zukunft auch vor. Seinen Eltern war es wichtig, dass ihr Sohn studiert, gerade weil sie diese Chance nicht hatten: Seine Mutter arbeitet als Sekretärin, sein Vater hat eine kleine Werkstatt. Sie hoffen, dass das Studium ihren Sohn gegen die Krise wappnet, die Hunderttausenden jungen Spaniern die Chance auf einen Job raubt.

In Spanien ist der Studentenanteil unter den jungen Menschen zwischen 20 und 24 Jahren besonders hoch: Fast 80 Prozent aus dieser Altersgruppe sind laut Eurostat-Erhebungen für ein Studium eingeschrieben, wie der aktualisierte SZ-Europa-Atlas zeigt (eine detaillierte Bedienungsanleitung finden Sie hier). In Deutschland studieren etwa 55 Prozent der Gleichaltrigen. Zwar liegt der Anteil der Studierenden in Spanien traditionell leicht über dem in Deutschland, doch der Anstieg innerhalb der vergangenen zehn Jahre verlief rasant: von 58 Prozent Studierendenanteil im Jahr 2002 auf heute 80 Prozent.

Vielen jungen Spanier dürfte es dabei ähnlich gehen wie Luis Téllez: Ihre Eltern schicken sie trotz der kürzlich gestiegenen Studiengebühren an die Hochschulen - in der Hoffnung, ihnen damit eine Perspektive zu eröffnen. Die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien ist eines der drängendsten Probleme der EU: 56 Prozent der jungen Spanier zwischen 15 und 24 Jahren waren im vergangenen Jahr arbeitslos.

Mit Erasmus von Andalusien nach Oberbayern

Nach Informationen des spanischen Bildungsministeriums ist ein Studium noch immer eine vergleichsweise gute Absicherung gegen Arbeitslosigkeit: Während 2012 die durchschnittliche Arbeitslosenquote in Spanien bei 25 Prozent lag, waren nur 15 Prozent der Hochschulabsolventen arbeitslos. Deshalb drängen junge Spanier an die Unis. Auch Luis Téllez kennt niemanden in seinem Freundeskreis, der nicht nach der Schule diesen Weg wählte: "Alle studieren - weil sie Angst haben, abgehängt zu werden."

Zudem öffnet das Studium den Weg ins Ausland: von Andalusien mit durchschnittlich 36 Prozent Arbeitslosen, der höchsten Quote in ganz Europa, etwa nach Oberbayern. Dort waren im April gerade einmal 3,7 Prozent der Menschen arbeitslos. In Zeiten, in denen der europäische Arbeitsmarkt zusammenwächst, kann die Fremde den ersehnten Job bringen. Die ersten Kontakte im Ausland knüpfen viele junge Akademiker im Auslandssemester. Dabei funktioniert der Austausch beidseitig: Spanien ist noch immer das beliebteste Gastland für deutsche Erasmus-Studenten. Doch inzwischen kommen auch immer mehr Spanier nach Deutschland.

Etwa ein Fünftel der Erasmus-Teilnehmer, die aus dem Ausland an deutsche Hochschulen kommen, stammt aus Spanien. Dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) zufolge sind spanische Erasmus-Studenten damit hierzulande am stärksten vertreten. Doch auch für ein komplettes Studium ist Deutschland für Spanier attraktiv - auch wegen der niedrigen Gebühren. Während ein Student in Spanien durchschnittlich zwischen 2000 und 3000 Euro pro Jahr bezahlt, sind an den meisten deutschen Unis nur noch etwa 400 Euro pro Jahr fällig.

Spaniens Hochschulen müssen sparen

Auch Luis Téllez will mit Erasmus ins Ausland, am liebsten in eine kleine Stadt in der deutschen Provinz. Er glaubt: "Wo kaum jemand Englisch kann, würde ich bestimmt sehr schnell Deutsch lernen." Fasziniert berichtet er davon, dass man hierzulande im ersten Berufsjahr als Ingenieur bereits 40.000 Euro verdienen könne: "In Spanien bekommst du wegen der Krise zur Zeit gerade mal 650 Euro im Monat, wenn du Pech hast."

Trotzdem ist nicht allein die Krise verantwortlich für den hohen Studentenanteil in Spanien: Zum einen setzen viele Berufe, die in Deutschland Ausbildungsberufe sind, in Spanien ein Studium voraus. Für Krankenpflege beispielsweise gibt es eigene Studiengänge. Zum anderen fehlt in Spanien die - typisch deutsche - Tradition des dualen Systems, also die Ausbildung in Betrieb und Berufsschule.

Gleichzeitig ist die Zahl der jungen Leute, die die Schule ohne oder mit einem niedrigen Abschluss verlassen, in Spanien mit aktuell knapp 24 Prozent im europaweiten Vergleich sehr hoch. Eine Studie des Zentrums für Europäische Politikwissenschaften (CEPS) vergleicht die Lage der spanischen Gesellschaft mit einer Sanduhr: Oben viele Studenten, unten viele ohne Berufsausbildung, dazwischen nicht viel.

Kosten für ein Studium steigen

Der Wirtschaftswissenschaftler und Bildungsexperte Álvaro Choi sieht den steigenden Studentenanteil zwar als Chance, aber er gibt auch zu bedenken, dass dieser Trend die Ungleichheit verschärfen könne. So entstehe eine Kluft zwischen der Bildungsoberschicht und den Abgehängten. Dabei liegt Spanien in Sachen Bildungsgerechtigkeit bisher über dem europäischen Mittelwert: Etwa ein Viertel der Hochschulabsolventen stammt wie Luis Téllez aus nicht akademischen Familien.

Doch die Kosten für ein Studium steigen - auch weil die Regierung die Mittel kürzt. Choi befürchtet, dass Kinder aus bildungsfernen Schichten sich ein Studium womöglich bald nicht mehr leisten können. Spaniens Hochschulen müssen sparen, viele Dozenten wurden bereits entlassen. Das verschlechtert die Situation an den Unis, während gleichzeitig die Nachfrage nach Studienplätzen stiegt. Auch deshalb sehen immer mehr Studenten und junge Absolventen nur einen Ausweg: nichts wie weg ins europäische Ausland.

Linktipp: Was uns Statistiken über die EU verraten und was Sie alles im SZ-Europa-Atlas entdecken können, steht in diesem Text.

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