Studium:Verstößt der NC fürs Medizinstudium gegen das Grundgesetz?

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Studierende der Human- und Zahnmedizin hören im historischen Hörsaal am Institut für Anatomie der Universität in Leipzig eine Vorlesung zu Neuroanatomie. (Foto: Waltraud Grubitzsch/dpa)

Wie werden die Bewerber derzeit ausgewählt? Was könnte sich nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ändern? Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Von Matthias Kohlmaier und Larissa Holzki

Worüber wird entschieden?

Wer kein hervorragendes Abitur hat, hat in Deutschland kaum Chancen auf einen Studienplatz in Medizin. Damit entscheidet ein sehr umstrittenes Kriterium über die Berufschancen von Menschen. Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen bezweifelt, dass die derzeit gültigen Regeln bei der Vergabe von Studienplätzen für Humanmedizin überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Es hat deshalb eine Anfrage an das Bundesverfassungsgericht gestellt. Die Richter in Karlsruhe müssen nun also entscheiden, ob das Vergabeverfahren verfassungsgemäß ist. Die Verwaltungsrichter aus NRW sind ihrerseits schon 2012 zu der Einschätzung gekommen, dass das nicht der Fall ist.

Wie werden die Studienplätze für Medizin derzeit vergeben?

Die Studienplätze für Humanmedizin werden nach einem festgelegten Schema von der Stiftung für Hochschulzulassung vergeben. Dieses zentrale Vergabeverfahren greift auch bei den Studiengängen Zahnmedizin, Tiermedizin und Pharmazie. Für Humanmedizin gehen 20 Prozent der Plätze an Bewerber mit den besten Abiturnoten, 20 Prozent werden nach Wartezeit vergeben und die verbleibenden 60 Prozent vergeben die Hochschulen nach eigenen Kriterien; zum Beispiel nach der Leistung im sogenannten Medizinertest oder ob Bewerber bereits eine Ausbildung im medizinischen Bereich absolviert haben. Dennoch spielt auch hier die Abiturnote eine große bis sehr große Rolle.

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Das bedeutet in der Praxis: Wer mit Sicherheit einen Studienplatz bekommen will, braucht aktuell in 14 der 16 Bundesländer die Abschlussnote 1,0. Wer ein schlechteres Abitur hat, kann sich zwar auch bewerben, hat aber nur geringe Chancen. Medizin studieren kann dennoch jeder - wenn er oder sie ausreichend Geduld mitbringt: Die Wartezeit auf einen Studienplatz liegt bei bis zu 15 Semestern. Auf der Warteliste spielt die Abiturnote wiederum keine Rolle, im Zweifel wartet jemand mit Abiturnote 1,4 ebenso lang wie jemand mit 3,2.

Warum gibt es eigentlich einen NC?

Gibt es für einen Studiengang mehr Bewerber als Studienplätze, müssen die Hochschulen den Zugang beschränken. Am einfachsten geht das, indem eine Grenze anhand der Abiturnote festgelegt wird. Ursprünglich war der Numerus clausus ein Instrument, das nur in Sonderfällen und vorübergehend zum Einsatz kommen sollte. Von "situationsbedingten Notmaßnahmen" hat das Bundesverfassungsgericht gesprochen, als es sich in den 70er Jahren schon einmal mit den Zulassungsbeschränkungen fürs Studium beschäftigt hat.

Da aber gerade in der Medizin die Nachfrage deutlich gestiegen ist in den vergangenen Jahren, ist der NC dort längst nicht mehr Notlösung, sondern Alltag. Bewarben sich 1994/95 noch 15 753 Menschen um 7366 Studienplätze, so sind es zum aktuellen Wintersemester 43 184 Anwärter für nur 9176 Plätze. Es kommen auf einen Studienplatz also ungefähr fünf Bewerber.

Inwiefern könnte das Verfahren nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sein?

Artikel 12 des Grundgesetzes billigt jedem Bürger das Recht zu, Arbeitsplatz oder Ausbildungsstätte frei zu wählen. Weil das vor allem beim Medizinstudium aus Kapazitätsgründen nicht möglich ist, gibt es die Wartezeitregelung. Sie stellt sicher, dass tatsächlich jeder Mensch mit allgemeiner Hochschulreife Medizin studieren kann - nur eben der eine früher und der andere später, je nach Abiturnote. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht 1977 auch festgelegt, dass die Wartezeit nicht länger als das anschließende Studium sein darf. In der Medizin jedoch übersteigt die Wartezeit mit 14 Semestern mittlerweile die Regelstudienzeit von zwölf Semestern.

Es ist dennoch utopisch, dass plötzlich jeder Abiturient sogleich ein Medizinstudium antreten könnte. "Man kann nicht alle Studieninteressierten bedienen, so viele Plätze kann es bei dem aktuellen Andrang gar nicht geben. Deshalb muss man eine Lösung finden, die möglichst vielen Bewerbern gerecht wird", sagt der Experte für Hochschulrecht Philipp Verenkotte.

Einen weiteren Punkt, den sich die Richter in Karlsruhe vornehmen könnten, begründet Verenkotte mit Artikel 3 des Grundgesetzes (Gleichheitsgrundsatz). Denn die Abiturnote ist zwar immens wichtig auf dem Weg zum Medizinstudium, über alle Bundesländer hinweg vergleichbar ist sie jedoch nicht. Abi ist in Deutschland nach wie vor nicht gleich Abi - zwischen 2005 und 2012 waren die Abiturnoten in Thüringen zum Beispiel im Durchschnitt um 0,4 besser als die der Schüler in Niedersachsen. Ein Riesenunterschied, wenn es beim Kampf um die begehrten Studienplätze für Medizin auf jedes Notenzehntel ankommt.

Wie könnten die Karlsruher Richter entscheiden?

Bereits 2012 hatte sich das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen schon einmal in der Sache NC für Medizin an das Bundesverfassungsgericht gewandt. Da hatte Karlsruhe die Vorlage aber nicht einmal zur Entscheidung angenommen. Da das nun anders ist, steht zu vermuten, dass sich tatsächlich etwas tun könnte. Ähnlich sieht es Rechtsanwalt Verenkotte:

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"Ich erwarte nicht, dass das Bundesverfassungsgericht am Ende sagen wird, dass das aktuelle Vergabesystem schon so in Ordnung ist. Welche Aufgaben die Richter dem Gesetzgeber auftragen werden, ist jedoch schwer zu prognostizieren. Ich gehe aber davon aus, dass die Überbetonung der Abiturnote und die extrem lange Wartezeit Punkte sein könnten, die das Bundesverfassungsgericht kritisieren wird."

Wie lief die Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht ab?

Die Richter haben Experten verschiedener Hochschulen eingeladen, die von ihren Erfahrungen mit unterschiedliche Lösungsansätze für die Platzvergabe berichtet haben - von der Notenauswahl über den Medizinertest bis zu aufwendigen Intervieverfahren. Dabei wurde auch deutlich: Universitäten und Bundesländer hätten gerne Spielraum bei der Frage, wen sie für ihre Studiengänge zulassen. Anhand der Fragen der Richter ließ sich jedoch ablesen, dass sie die Entscheidung, was gerecht ist, künftig nicht mehr allein ins Belieben der Unis stellen wollen.

Wie könnte die Studienplatzvergabe für Medizin neu geregelt werden?

Die Leistungen im Medizinertest könnten stärker gewichtet werden, dazu könnten sich die Unis mehr auf interne Auswahlverfahren konzentrieren - was natürlich mit einem größeren Aufwand verbunden wäre. Besonders Ärzteverbände wünschen sich, dass die Sozialkompetenz der Bewerber mehr in den Fokus gerückt wird. Man brauche nicht nur hoch lernfähige, wissenschaftlich orientierte, potenzielle Nobelpreisträger, sondern auch gute Ärzte, die sich durch soziale Kompetenz auszeichneten und bereit seien, als Hausarzt aufs Land zu gehen, erklärte der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery.

Eine weitere Option: Menschen, die bereits eine Berufsausbildung in einem medizinischen Beruf absolviert haben - vom Krankenpfleger bis zur Rettungsassistentin - werden bei der Vergabe von Studienplätzen bevorzugt. Abschließend fordern viele Experten, einfach mehr Studienplätze anzubieten. Ärzte-Präsident Montgomery etwa will 1000 zusätzliche Plätze. Diese Forderung ist zwar logisch, aber auch teuer. Die Ausgaben je Student beliefen sich 2014 laut Statistischem Bundesamt auf etwa 32 960 Euro - damit ist die Humanmedizin das teuerste Studienfach.

Wann würde eine Veränderung der derzeitigen Praxis wirksam?

Doch selbst wenn das Bundesverfassungsreicht eine Änderung der Studienplatzvergabe anmahnt, heißt das längst nicht, dass sogleich etwas passieren wird. Denn das aktuelle Verfahren ist über einen Staatsvertrag geregelt, den der Bund und alle 16 Bundesländer unterzeichnet haben. Beurteilt Karlsruhe das Verfahren nun als nicht (mehr) mit dem Grundgesetz vereinbar, ist die Politik gefordert, ein neues System auszuarbeiten. Das würde dann auch für die Fächer Zahnmedizin, Tiermedizin und Pharmazie gelten, deren Zugang durch denselben Staatsvertrag geregelt ist.

Experte Philipp Verenkotte vermutet, dass sich für Studierende vor Ende 2018 sicherlich nichts ändert und selbst dann weitere Übergangsfristen gelten würden, in denen das aktuelle Vergabeverfahren in Teilen weiter angewandt würde. Kurzum: Wer Medizin studieren möchte, wird gewiss noch eine Weile entweder ein herausragendes Abitur oder herausragende Geduld benötigen.

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