Wieder hat es einen Politiker erwischt. Die Freie Universität Berlin hat beschlossen, dem CDU-Bundestagsabgeordneten Frank Steffel den Doktorgrad zu entziehen. Der Politiker hat in seiner Dissertation zwar zu diversen Passagen Quellen angegeben, aber diese Angaben seien nicht ausreichend. Nach eingehender Prüfung findet die Hochschule, es sei nicht ersichtlich, "dass er wörtlich oder fast wörtlich Texte anderer Autoren in seine Dissertation eingefügt hat und in welchem Umfang".
Ob nun vorsätzlich oder aus Versehen: Plagiate waren und sind auch Jahre nach Karl-Theodor zu Guttenbergs Enttarnung Teil des hochschulischen Lebens. Und sie sind nur eine Disziplin akademischen Fehlverhaltens. Wer sich unter Lehrenden wie Studierenden umhört, bekommt den Eindruck, an deutschen Unis sei Betrug nicht nur an der Tagesordnung, sondern auch bis zu einem gewissen Grad geduldet. Spicken in Klausuren, Abgabe von erschwindelten Attesten oder plagiierten Hausarbeiten kommen offenbar ständig vor.
Konkrete Zahlen zu Betrug an Unis gibt es wenige, schon gar keine Untersuchungen über einen längeren Zeitraum. Eine der umfangreichsten Studien im deutschsprachigen Raum hat der Soziologe Sebastian Sattler erstellt. Für seine Fairuse-Studie wurden zwischen 2009 und 2012 mehrere Tausend Studierende gefragt, was sie sich im vergangenen halben Jahr hatten zu Schulden kommen lassen:
- 37 Prozent hatten in einer Klausur abgeschrieben
- 35 Prozent hatten Arbeitsaufgaben von Kommilitonen abgeschrieben
- 31 Prozent hatten einen Spickzettel mit in eine Klausur genommen und 17 Prozent hatten diesen auch eingesetzt
- 24 Prozent hatten Daten verfälscht oder verändert
- 18 Prozent hatten plagiiert
- 15 Prozent hatten unbegründete Atteste oder Ausreden verwendet, um Prüfungen oder Abgabefristen zu verschieben
Seitdem habe sich zwar an den meisten Hochschulen eine Menge getan, sagt Sattler heute, aber: "Mit einem Plagiat können Studierende leider nach wie vor in vielen Fällen recht einfach durchkommen." Vorhandene Möglichkeiten würden von den Lehrenden noch nicht konsequent genug genutzt: "Schon mit Suchmaschinen lassen sich viele Plagiate aufdecken, von dem Zusatznutzen spezieller Plagiatssoftware gar nicht zu sprechen." Das hat Sattler auch in einer weiteren Untersuchung vor einigen Jahren herausgearbeitet. Lehrende lassen sich demnach zwar ungern betrügen und sind auch bereit, gegen schummelnde Studierende vorzugehen. Diese Bereitschaft geht allerdings nur soweit, als sich der dafür nötige Aufwand in Grenzen hält.
Kurzum: Vor der Klausur Smartwatches und -phones einsammeln klappt; mit aller Konsequenz nach Plagiaten in der Hausarbeit suchen weniger. Das hat laut Sebastian Sattler zwei zentrale Gründe. Der erste liegt im System Hochschule begründet: "In der akademischen Welt muss man sich leider immer überlegen, wie man seine Zeit investieren möchte. Die Lehre ist nur ein Teil des Berufs, und gewiss nicht der, der die meiste Reputation bringt." Beurteilt werde man als Hochschulmitarbeiter mehr danach, "wie viele Drittmittel man rangeschafft und wie viel und wie gut man publiziert hat", sagt der Soziologe.
Es ist das alte Problem des akademischen Mittelbaus. Verträge sind in der Regel befristet, die Miete im kommenden Semester alles andere als sicher. So konzentrieren sich noch immer viele Lehrende auf das, was einen Anschlussvertrag bringt. Zu prüfen, ob Studentin X in ihrer Seminararbeit durchgängig korrekt zitiert hat, gehört nicht unbedingt dazu.
Grund Nummer zwei erklärt Sattler mit einer Sportmetapher: "Wie etwa beim Doping im Radsport gilt auch an Hochschulen: Man kann unglaublich schlau betrügen, eine hundertprozentige Aufdeckungswahrscheinlichkeit wird es nie geben." Selbst für geübte Plagiatssucher ist es sehr schwierig, Betrug nachzuweisen, wenn ein Studierender einen Textbaustein aus einer fremden Sprache übersetzt und umformuliert; ohne Quellenangabe natürlich. Wie beim Doping legten auch hier diejenigen vor, die betrügen wollten, meint Sattler. "Für die Uni bedeutet das einen ewigen Wettlauf."
Auf den hat man an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz schon länger keine Lust mehr. Dort läuft seit 2013 das Projekt "Akademische Integrität", gefördert vom Bundesbildungsministerium. "Unser Ansatz ist auf Prävention ausgelegt und weniger auf kriminalistisches Arbeiten", sagt Uni-Präsident Georg Krausch. In Mainz sollen Studierende nicht durch Unwissenheit, Selbstüberschätzung oder Angst vor Prüfungen quasi zu Fehlverhalten getrieben werden. Vielmehr wolle man, so Krausch, "ein Studienumfeld schaffen, in dem Prüfungen als Rückmeldung zum eigenen Leistungsstand gesehen werden und nicht als etwas, das man abhakt, um ein Zeugnis zu kriegen".
Also hat man in Mainz in den vergangenen Jahren viel Geld in Seminare, Arbeitsgruppen und Schreibwerkstätten investiert. Überlasteten Studierenden, die ihre Hausarbeiten aus Zeit- und Energiemangel am Ende zusammenplagiieren müssen, wird damit frühzeitig Beratung und Unterstützung angeboten. Außerdem werden auch die Hochschulmitarbeiter regelmäßig geschult. Krausch, etwas martialisch: "Ich halte im Kampf gegen akademisches Fehlverhalten ein Wettrüsten mit ständigem Ausbauen der Kontrollen und Ausweiten der Strafen nicht für zielführend." So eine akademische Kultur wolle man nicht, schließlich habe man es mit erwachsenen Menschen zu tun.
Wie einfach man auch diese im positiven Sinne beeinflussen kann, zeigt eine weitere Erkenntnis von Soziologe Sebastian Sattler. In puncto akademischer Betrug wirkt sich das Verhalten von Lehrenden stark auf die Entdeckungswahrscheinlichkeit aus. Im universitären Alltag bedeutet das: Kündigt der Dozent zu Beginn des Seminars Plagiatskontrollen an, sinkt die Wahrscheinlichkeit deutlich, dass Studierende tatsächlich schummeln werden. Die meisten Menschen halten sich im Straßenverkehr schließlich auch an Geschwindigkeitsbegrenzungen, wenn ein Hinweisschild vor Kontrollen warnt. Darüberhinaus stimmt Sattler übrigens dem Mainzer Ansatz zu: "Prävention und die Vermittlung des Handwerkszeugs sollten oberste Priorität haben." Es sei wichtig, Plagiate in ihrer Entstehung zu bekämpfen.
Und CDU-Politiker Frank Steffel? Hat der Freien Uni Berlin gegenüber angegeben, dass er keinen Täuschungsvorsatz gehabt habe. Außerdem verwies er auf die Zitierweise seines damaligen wissenschaftlichen Betreuers im Promotionsverfahren. Geholfen hat ihm das wenig. Will er seinen Titel zurückhaben, bleibt Steffel nur die Klage vor dem Verwaltungsgericht. Vielleicht fördert diese Aussicht ja bei einigen Studierenden die Motivation, sich nochmal eingehend mit Zitierregeln zu beschäftigen.