Die Qualität des Studierens hängt nicht zuletzt davon ab, wie viele Studenten sich einen Professor teilen müssen - in Deutschland sind es meist sehr viele. Thüringen, der Primus, kommt auf 44:1, Nordrhein-Westfalen, das Schlusslicht, auf 91:1. Bundesweit betreut ein Professor 66 Studenten, sechs mehr als noch 2010. Im europäischen Vergleich ist das ein schlechter Wert. Was bedeuten solche Zahlen für die Lehre? Ein Gespräch mit Christian von Coelln, Juraprofessor in Köln, der einen "Türöffner" für Gruppen jeder Größe kennt: Wenn er erzählt, wie es für ihn war, mit seinem Namen in Düsseldorf aufzuwachsen.
SZ: Herr von Coelln, wie viele Studenten kommen bei Ihnen auf einen Professor?
Christian von Coelln: In der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln haben wir 35 Professoren für etwa 5300 Studenten. Das ergibt eine Betreuungsrelation von ungefähr eins zu 151.
Als guter Wert für Jura gilt eins zu 60, in Maschinenbau etwa sogar eins zu 30.
Es ist an den Unis in den letzten Jahren deutlich voller geworden, das ist richtig. Bei uns macht sich das aber nicht so bemerkbar, Jura war immer ein Massenfach. Das ist auch politisch gewollt, wir sind ein sehr billiger Studiengang, wenn man sich die Kosten pro Student ansieht. Für Kollegen aus anderen Fächern ist es schon eine Riesengruppe, wenn sie einmal vor 100 Leuten stehen. Bei uns sitzen 300 bis 400 Leute im Hörsaal, aber auch mal 600. Wir haben deshalb schon vor Jahren die Anfängervorlesung in zwei Gruppen aufgeteilt.
Eine gewisse Anonymität gehört in Jura also einfach dazu?
Geisteswissenschaftler sagen ja oft, sie hätten bei Professor Soundso studiert. Das gibt es bei uns nicht. Bei uns sagen die Leute, sie haben Jura in Köln studiert. Es kommt nicht so stark auf individuelle Betreuung an, vor allem in den ersten Semestern nicht. Später ist das anders, da geht es um Seminararbeiten, um intensivere Gespräche auf höherem fachlichen Niveau.
Das Betreuungsverhältnis ist also in Ordnung aus Ihrer Sicht?
Nein, in Ordnung ist das natürlich nicht. Wir dürfen die hohen Zahlen nicht einfach als gottgegeben hinnehmen. Wir sollten uns ernsthaft Gedanken darüber machen, was eine erstrebenswerte Betreuungsrelation wäre, in Jura und allen anderen Fächern. Vor allem in Nordrhein-Westfalen, wir können nicht immer Schlusslicht sein.
Was würden Sie sich denn wünschen?
Ich kann nicht mit konkreten Zahlen dienen. Aber ich würde mir wünschen, dass ich als Professor früher im Studium mit kleineren Gruppen arbeiten kann. Harvard oder private Hochschulen in Deutschland bringen auch deshalb so gute Absolventen hervor, weil sich die Professoren um viel weniger Studenten kümmern und gezielter auf Probleme eingehen können. Das können wir nicht. Intensiv an Fällen gearbeitet wird bei uns in den Arbeitsgemeinschaften, mit 20 oder 25 Leuten, die leiten meine Mitarbeiter. Ich halte die Vorlesungen, beides geht nicht. Im letzten Semester hatte ich eine Vorlesung, wo am Ende 350 Leute die Klausur geschrieben haben. Da kann ich hinterher nicht mal mit allen sprechen, die nicht bestanden haben.
Wie viele Erstsemester kennen Sie denn beim Namen?
Vielleicht eine Handvoll.
Ist es da möglich, Talente zu entdecken ?
Wenn wir eine Hilfskraft suchen, ist meistens einem meiner Mitarbeiter in der AG jemand aufgefallen. Dann lasse ich mir die Person beschreiben, und wenn es gut läuft, bin ich auf sie auch schon in der Vorlesung aufmerksam geworden. Aber das ist in gewisser Weise Glückssache: Es hängt davon ab, ob sich die Studenten trauen, in einer großen Gruppe zu reden.
Und die trauen sich umso weniger, je mehr Leute in der Vorlesung sind?
Nicht unbedingt. Es gibt einzelne, die mit klugen Beiträgen aus der Masse herausragen, und andere, die man nicht kennt. Das ist immer so, ob 80 oder 600 Leute im Hörsaal sitzen. Wer sich beteiligen will, tut das. Und wer keine Lust hat, spricht auch vor 100 Leuten nicht.
Peter-André Alt, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, sagt, die große Herausforderung der Hochschulen sei weniger die Menge an Studenten als ihre unterschiedlichen Bildungsniveaus.
Diese Heterogenität ist da, keine Frage. Die Zugangswege an die Hochschule sind immer verästelter, auch wenn Studenten ohne Abitur bei uns in Jura eher eine untergeordnete Rolle spielen. Was wir aber merken ist ein massiver Einbruch der mündlichen und schriftlichen Ausdrucksfähigkeit. Das wird von Jahr zu Jahr schlechter.
Das müssen Sie erklären.
Es fehlt häufig an elementaren Dingen: Dass ich zum Beispiel den Konjunktiv 1 benutze, wenn ich fremde Meinungen referiere: Da gibt es immer noch Leute, die das filigran beherrschen, aber es gibt andere, da ist das gar nicht mehr vorhanden, von Rechtschreibung und Zeichensetzung ganz zu schweigen. Ein weiteres Problem ist ein immer stärker zu beobachtendes Desinteresse, was Politik angeht. Wir stehen heute vor einem Auditorium, bei dem die meisten denken, es reiche, das zur Kenntnis zu nehmen, was einem die Facebook-Timeline reinspült. Aber wer nicht weiß, was der Bundestag ist, der wird sich im gesamten öffentlichen Recht wahnsinnig schwer tun, und nicht nur dort.
Sie könnten Brückenkurse veranstalten, wie in vielen anderen Fächern.
Das ist die Frage: Bis zu welchem Maß müssen wir nacharbeiten, was eigentlich Aufgabe der Schulen wäre? Klar ist: Wir können nicht anfangen, Rechtschreib- und Grammatikkurse durchzuführen. Klar ist aber auch, dass wir darauf reagieren müssen, dass nicht mehr alle Jurastudenten in einer Familie aufwachsen, wo abends selbstverständlich die Nachrichten laufen. Wir veranstalten AGs, bieten Unterstützung an, aber alles im Rahmen unserer Möglichkeiten. Da sind wir wieder bei dem Massenproblem: Jedes Defizit kann ich mit mehr Zeit in einer kleineren Gruppe besser beheben.
Sie zeichnen Ihre Vorlesungen auf Video auf und stellen Sie ins Internet. Lassen sich so die Schwächen einer Massenveranstaltung so zumindest zum Teil beheben?
Einerseits sind die Videos eine prima Sache für Leute, die nicht kommen können, weil sie kleine Kinder zu betreuen haben oder kranke Angehörige; oder für Leute, denen es inhaltlich zu schnell geht oder sprachlich. Sie können das Video anhalten und zurückspulen. Für manche aber wird die Aufzeichnung endgültig zum Hindernis, sich auch einmal an der Vorlesung zu beteiligen. Nach dem Motto: Wenn ich eine dumme Frage stelle, dann ist die für alle Zeiten im Internet.
Wer vor 600 Leuten spricht, traut sich noch lange nicht, wenn die Kamera läuft?
Genau. In Wahrheit hört man Fragen aus dem Auditorium im Video gar nicht, aber das psychologische Moment darf man nicht unterschätzen. Vor der Klausur Ende Januar biete ich oft eine Online-Videosprechstunde an, weil es nach der Weihnachtspause viele Fragen gibt. Das wird extrem gut angenommen, wenn die Studenten Fragen per Textchat stellen können. Einmal aber sollten sie sich selbst per Video zuschalten. Kaum jemand hat mitgemacht. Und die, die es doch taten, hielten sich ein Buch vors Gesicht.