Süddeutsche Zeitung

Studium in Deutschland:Warum Ost-Unis attraktiv für West-Studenten sind

Hoch spezialisierte Studiengänge, moderne Hörsäle und Professoren, die sich Zeit nehmen: Die Unis der neuen Bundesländer sind zunehmend interessant für Abiturienten aus dem Westen.

Von Ulrike Nimz, Ilmenau, und Johann Osel

Gefühlt liegt dieses Ilmenau ja weit weg von allem. Wer mit dem Zug anreist, rumpelt eine Zeit lang vorbei an tiefen Tälern, verwilderten Gärten und Tannen, so hoch, dass sie irgendwo über den Wolken enden. Schön ist das, zum Urlauben und Wandern und Holzfällen vielleicht - aber zum Studieren? Der Campus der Technischen Universität - der Grund also, warum man die kurvenreiche Anreise auf sich nimmt - liegt an der Westseite des Ehrenbergs, ein grüner Hügel, 528 Meter hoch. Bei Nacht und Nebel haben katholische Studenten dort vor Jahrzehnten ein hölzernes Gipfelkreuz errichtet, zu DDR-Zeiten ein Affront. Zu eben diesen DDR-Zeiten, als die TU Ilmenau noch Technische Hochschule hieß, lehnte sie auch die Bewerbung einer jungen Physikerin ab. Angela Merkel ging dann nach Berlin-Adlershof. Seitdem haben beide, die Physikerin und die Universität, an Bedeutung gewonnen.

Zwar gehört das 1894 gegründete "Thüringische Technikum" mit kaum 7000 Studenten und 104 Professoren noch immer zu den kleinsten Technischen Universitäten, zählt jedoch zu den innovativsten Wissenschaftsstätten Europas: Assistenzroboter für Demenzkranke, Ultrabreitbandfunktechnologie gegen Krebs, die genaueste Präzisionswaage der Welt. 2014 hat die TU mit knapp 47 Millionen Euro die höchsten Drittmitteleinnahmen ihrer Geschichte erzielt. Im Gespräch aber war sie zuletzt auch aus einem anderen Grund: Zum vergangenen Wintersemester stammten 53 Prozent der neu eingeschriebenen Studenten aus den alten Bundesländern.

Dass die Studienbedingungen im Osten oftmals besser sind als im Westen, hat sich schon seit einer Weile herumgesprochen. Hoch spezialisierte Studiengänge, neue Gebäude, in denen auch diejenigen einen Sitzplatz bekommen, die nicht schon eine halbe Stunde vor Vorlesungsbeginn da sind. Professoren, mit denen neben E-Mails auch Worte gewechselt werden. Nur das Leben abseits der Metropolen, das Klischee von Ruinen und Rechtsradikalen, schreckte Abiturienten aus den alten Ländern lange ab. Nur jeder Fünfte hält ostdeutsche Städte für einen attraktiven Studienort.

Seit Jahren buhlen Hochschulen im Osten um Studenten aus dem Westen. Während es demografisch bedingt im Osten immer weniger Studienanfänger gibt, stoßen viele West-Unis an die Grenzen. Durch die doppelten Abiturjahrgänge in den alten Ländern - der Osten hatte ja schon immer das G8 - und den "Geburtenknick" nach der Wende im Osten hat sich das Problem verschärft. Das Werben zeigt Wirkung. Bei allen Studienanfängern an den mehr als 40 Hochschulen in den neuen Ländern (ohne Berlin) hatten im vergangenen Wintersemester 33 Prozent ein westdeutsches Abitur. 2008 waren es nur 20 Prozent, vor zehn Jahren 15 Prozent. Dies zeigt die Auswertung amtlicher Daten. An vielen Unis heißt es, der Zuzug lasse die Einrichtung zwar nicht wachsen, die Strukturen müssten aber auch nicht mangels Nachfrage schrumpfen.

Für jeden Ost-Abiturienten, der im Westen studiert, gehen zwei westdeutsche in den Osten

Als Tobias Heinl das erste Mal von Würzburg nach Ilmenau fuhr, sah er zunächst nur blühende Landschaften: "Und frisch verputzte Einfamilienhäuser". Heinl, 24, studiert Medientechnologie, ist Werkstudent am Fraunhofer-Institut für Digitale Medientechnologie. Dessen Leiter ist Karlheinz Brandenburg, der als Erfinder des MP3-Standards auch schon mit Michael Jackson zusammengearbeitet hat. Heinls Projekt ist ein 3-D-Soundsystem. Besucher führt er gern in einen Raum, der aussieht wie ein übergroßer Eierkarton. 1,5 Meter lange Keile aus Glaswolle schlucken jede Form von Schall und bieten somit ideale Voraussetzungen für akustische Messungen. Ein zweites Guantanamo könnten sie hier sicher auch einrichten: Wer bei geschlossener Tür verweilt, hört nach fünf Minuten seinen Puls, nach zehn das Blut im Kopf rauschen. Nach dreißig Minuten hört man Dinge, die gar nicht da sind.

Ein bisschen ist es mit den Vorurteilen ja genauso. Osten, Westen - das alles sei auf dem Campus kein Thema, sagt Heinl. Erstaunen habe seine Entscheidung, nach Thüringen zu ziehen, nur bei einigen Freunden und Verwandten ausgelöst. Dabei ist Würzburg nur 90 Autominuten entfernt. Im Westen, glaubt Heinl, gibt es schon noch Menschen, die noch nie "drüben" waren.

Und was haben sie sich nicht alles einfallen lassen, um das zu ändern. "Studieren in Fernost" hieß die Kampagne, die von einer Werbefirma erdacht und 2008 von den fünf neuen Ländern angeschoben wurde, der Bund unterstützte das. Mit Trabbi-Safari, Robben-Schwimmen und viel Ironie warb man von Freiberg bis Rostock um die Gunst der Studenten aus den alten Ländern. Als in einem der Marketingfilmchen zwei Chinesen in Vampirkostümen (Stichwort Fernost) vor der Uni Leipzig standen, um dem damaligen Rektor Franz Häuser zum 600-jährigen Bestehen der Hochschule zu gratulieren, fiel dem dazu später nur eines ein: "Saublöd."

Heute gilt das Konzept als Erfolg: Aktuell gehen für jeden ostdeutschen Abiturienten, der im Westen studiert, zwei westdeutsche in den Osten. Und die sind zufrieden: 87 Prozent aller Studenten im Osten würden erneut dort ihre Hochschule wählen, im Westen 82 Prozent, ergab eine Umfrage der Fernost-Initiative. Bei den dabei abgefragten Aspekten - darunter Betreuung, Infrastruktur, Berufsvorbereitung - bewerten Ost-Absolventen ihr Studium leicht besser. Ein Grund ist offenbar, dass bei der Ausstattung nach der Wende vieles neu gemacht wurde, im Westen dagegen die Gebäude häufig noch original Siebzigerjahre sind.

In den letzten zehn Jahren hat die Zahl der Erstsemester-Studenten mit West-Abitur am stärksten in Sachsen zugenommen, knapp gefolgt von Thüringen und Sachsen-Anhalt. In den drei Ländern hat sie sich in diesem Zeitraum mehr als verdoppelt. In Brandenburg lag der Anstieg bei 60, in Mecklenburg-Vorpommern bei 80 Prozent.

Obwohl bei dieser Entwicklung sicher auch der allgemeine Trend hin zum Studium eine Rolle spielte, jubiliert die Politik und lobt vor allem die eigenen Bemühungen. Hartmut Möllring (CDU), Wissenschaftsminister in Sachsen-Anhalt und Koordinator der neuen Länder in Sachen Hochschulwerbung, sagt: "Die Strategie, den Studentenansturm im Westen in die sich leerenden ostdeutschen Hörsäle zu lenken, war goldrichtig. Mittlerweile hat sich in ganz Deutschland herumgesprochen, dass man im Osten bestens studieren kann." Die Strategie der länderübergreifenden Kampagne auch mit neuen Wegen, etwa in sozialen Medien, habe "wichtige Überzeugungsarbeit geleistet und viele junge Westdeutsche für ein Studium im Osten begeistert".

Was für Tobias Heinl entscheidend war: die einzigartige Ausrichtung seines Studienganges. Und Ilmenaus guter Ruf. Im Unterschied zu anderen Universitäten kann hier jeder, der einen Bachelor macht, auch damit rechnen, einen Platz für den Master zu bekommen. "Sie geben dir das Gefühl, dass es einen Plan für dich gibt", sagt Heinl. Als er sich eines Nachts mit widerspenstiger Schaltungstechnik herumplagte, habe er seinem Professor eine Mail geschrieben. "30 Minuten später war die Antwort da, an einem Samstag."

Ilmenau liegt im Thüringer Wald, doch es gibt hier Gezeiten: Semester und Semesterferien

Eine Wohnung gibt es in Ilmenau schon ab 200 Euro. Niemand muss auf den Campingplatz ziehen, geschehen in Bonn, oder beim Asta im Keller wohnen, geschehen in Frankfurt am Main. Der Campus entspricht der studentischen Dreifaltigkeit aus Pauken, Pennen, Party: Es gibt eine Vielzahl außeruniversitärer Forschungsinstitute und die Bibliothek, eine Kindertagesstätte und Clubs in den Kellern der Studentenheime. Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass Rammstein hier mal gespielt haben. "Vielleicht war es aber auch nur irgendeine Metal-Band aus Gräfenroda", sagt Heinl. "Vieles, was in Ilmenau passiert, passiert durch uns", sagt er auch. Im Stadtrat sitzt "Pro Bockwurst", eine Wählergemeinschaft, gegründet von TU-Mitarbeitern, die im besten Sinne sozialdemokratische Positionen vertritt. 2014 erhielt sie 9,5 Prozent der Stimmen.

Ilmenau mit seinen 26 000 Einwohnern mag mitten im Thüringer Wald liegen, und doch gibt es hier Gezeiten: Semester und Semesterferien. Zeiten mit vollen Kneipen und Konzerten - und dann diese drei Monate, in denen sich der Puls der Stadt verlangsamt. Viele Studierende fahren in den Ferien in die Heimat oder verlassen für Praktika die Stadt. Nur wenige bleiben in der Gegend, sammeln Erfahrungen bei Bosch in Arnstadt oder gehen zu MDC Power, ein Motorenwerk in Kölleda.

Großunternehmen, die den Absolventen lukrative Stellen anbieten, sind in Thüringen rar. Wenn sie hier also etwas zu bedauern haben, dann, dass sie fast ausschließlich für den Westen ausbilden - auch den weit entfernten: Ende August zog eine Absolventin der TU für ein Jahr in eine von der Außenwelt abgeschottete Trainings-Marsstation der Nasa auf Hawaii.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2671807
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 01.10.2015/mkoh
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.