Gefühlt liegt dieses Ilmenau ja weit weg von allem. Wer mit dem Zug anreist, rumpelt eine Zeit lang vorbei an tiefen Tälern, verwilderten Gärten und Tannen, so hoch, dass sie irgendwo über den Wolken enden. Schön ist das, zum Urlauben und Wandern und Holzfällen vielleicht - aber zum Studieren? Der Campus der Technischen Universität - der Grund also, warum man die kurvenreiche Anreise auf sich nimmt - liegt an der Westseite des Ehrenbergs, ein grüner Hügel, 528 Meter hoch. Bei Nacht und Nebel haben katholische Studenten dort vor Jahrzehnten ein hölzernes Gipfelkreuz errichtet, zu DDR-Zeiten ein Affront. Zu eben diesen DDR-Zeiten, als die TU Ilmenau noch Technische Hochschule hieß, lehnte sie auch die Bewerbung einer jungen Physikerin ab. Angela Merkel ging dann nach Berlin-Adlershof. Seitdem haben beide, die Physikerin und die Universität, an Bedeutung gewonnen.
Zwar gehört das 1894 gegründete "Thüringische Technikum" mit kaum 7000 Studenten und 104 Professoren noch immer zu den kleinsten Technischen Universitäten, zählt jedoch zu den innovativsten Wissenschaftsstätten Europas: Assistenzroboter für Demenzkranke, Ultrabreitbandfunktechnologie gegen Krebs, die genaueste Präzisionswaage der Welt. 2014 hat die TU mit knapp 47 Millionen Euro die höchsten Drittmitteleinnahmen ihrer Geschichte erzielt. Im Gespräch aber war sie zuletzt auch aus einem anderen Grund: Zum vergangenen Wintersemester stammten 53 Prozent der neu eingeschriebenen Studenten aus den alten Bundesländern.
Dass die Studienbedingungen im Osten oftmals besser sind als im Westen, hat sich schon seit einer Weile herumgesprochen. Hoch spezialisierte Studiengänge, neue Gebäude, in denen auch diejenigen einen Sitzplatz bekommen, die nicht schon eine halbe Stunde vor Vorlesungsbeginn da sind. Professoren, mit denen neben E-Mails auch Worte gewechselt werden. Nur das Leben abseits der Metropolen, das Klischee von Ruinen und Rechtsradikalen, schreckte Abiturienten aus den alten Ländern lange ab. Nur jeder Fünfte hält ostdeutsche Städte für einen attraktiven Studienort.
Seit Jahren buhlen Hochschulen im Osten um Studenten aus dem Westen. Während es demografisch bedingt im Osten immer weniger Studienanfänger gibt, stoßen viele West-Unis an die Grenzen. Durch die doppelten Abiturjahrgänge in den alten Ländern - der Osten hatte ja schon immer das G8 - und den "Geburtenknick" nach der Wende im Osten hat sich das Problem verschärft. Das Werben zeigt Wirkung. Bei allen Studienanfängern an den mehr als 40 Hochschulen in den neuen Ländern (ohne Berlin) hatten im vergangenen Wintersemester 33 Prozent ein westdeutsches Abitur. 2008 waren es nur 20 Prozent, vor zehn Jahren 15 Prozent. Dies zeigt die Auswertung amtlicher Daten. An vielen Unis heißt es, der Zuzug lasse die Einrichtung zwar nicht wachsen, die Strukturen müssten aber auch nicht mangels Nachfrage schrumpfen.
Für jeden Ost-Abiturienten, der im Westen studiert, gehen zwei westdeutsche in den Osten
Als Tobias Heinl das erste Mal von Würzburg nach Ilmenau fuhr, sah er zunächst nur blühende Landschaften: "Und frisch verputzte Einfamilienhäuser". Heinl, 24, studiert Medientechnologie, ist Werkstudent am Fraunhofer-Institut für Digitale Medientechnologie. Dessen Leiter ist Karlheinz Brandenburg, der als Erfinder des MP3-Standards auch schon mit Michael Jackson zusammengearbeitet hat. Heinls Projekt ist ein 3-D-Soundsystem. Besucher führt er gern in einen Raum, der aussieht wie ein übergroßer Eierkarton. 1,5 Meter lange Keile aus Glaswolle schlucken jede Form von Schall und bieten somit ideale Voraussetzungen für akustische Messungen. Ein zweites Guantanamo könnten sie hier sicher auch einrichten: Wer bei geschlossener Tür verweilt, hört nach fünf Minuten seinen Puls, nach zehn das Blut im Kopf rauschen. Nach dreißig Minuten hört man Dinge, die gar nicht da sind.
Ein bisschen ist es mit den Vorurteilen ja genauso. Osten, Westen - das alles sei auf dem Campus kein Thema, sagt Heinl. Erstaunen habe seine Entscheidung, nach Thüringen zu ziehen, nur bei einigen Freunden und Verwandten ausgelöst. Dabei ist Würzburg nur 90 Autominuten entfernt. Im Westen, glaubt Heinl, gibt es schon noch Menschen, die noch nie "drüben" waren.
Und was haben sie sich nicht alles einfallen lassen, um das zu ändern. "Studieren in Fernost" hieß die Kampagne, die von einer Werbefirma erdacht und 2008 von den fünf neuen Ländern angeschoben wurde, der Bund unterstützte das. Mit Trabbi-Safari, Robben-Schwimmen und viel Ironie warb man von Freiberg bis Rostock um die Gunst der Studenten aus den alten Ländern. Als in einem der Marketingfilmchen zwei Chinesen in Vampirkostümen (Stichwort Fernost) vor der Uni Leipzig standen, um dem damaligen Rektor Franz Häuser zum 600-jährigen Bestehen der Hochschule zu gratulieren, fiel dem dazu später nur eines ein: "Saublöd."